Wie Hamm zum Hindu-Mekka wurde

In einem Industriegebiet in Hamm-Uentrop steht der größte Hindu-Tempel auf dem europäischen Festland. Ich habe mich beim großen Tempelfest unter die Gäste gemischt und den Architekten getroffen.

Die Götter müssen verrückt sein, schießt es mir durch den Kopf, als der Gelenkbus an einer breiten Straße mitten im Gewerbegebiet stoppt. Ringsum dominiert das Einheitsgrau deutscher Industriearchitektur, Wellblech und Beton wohin das Auge reicht. Hamm-Uentrop könnte ein Gewerbegebiet wie jedes andere sein, wäre da nicht dieser Verkehrshinweis am Straßenrand: Hindu-Tempel, rechts entlang! Und genau dorthin strömen die Männer und Frauen nun, die sich mit mir in den knackig vollen Bus gequetscht haben. Ihre Prozession aus blauen und türkisfarbenen und pinken Wickelkleidern färbt die Straßen bunt. Ich lasse mich von der Masse mitreißen.

Es ist Sonntag, der Haupttag des großen Tempelfests. Im vergangenen Jahr hatte es ein mittleres Verkehrschaos gegeben, als 20.000 Hindus und Schaulustige versuchten, ihr Auto möglichst nahe an den Ort des Geschehens zu bugsieren. Heute geht es geordneter zu: Schritt für Schritt nähern wir uns dem Tempel. Vorbei an Bannern, die für tamilische Fernsehsender und günstige Smartphone-Verträge werben. Vorbei an einer Marktfläche, von der fremde Essensgerüche herüberwehen und meinen Gaumen kitzeln. Vorbei an einer Infotafel für ein Kulturzentrum, das irgendwann hier entstehen soll.

Die meisten Besucher des Tempelfestes stammen aus Sri Lanka. Sie gehören zu den rund 45.000 tamilischen Hindus, die in Deutschland Zuflucht vor den Gräueln des Bürgerkriegs in ihrer alten Heimat gefunden haben. So verschlug es 1985 auch Priester Siva Sri Arumugam Paskarakurukkal nach Hamm. Vier Jahre später richtete der Geistliche einen Andachtsraum im Keller seiner Mietswohnung ein. Doch der kleine Kellerraum in der Hammer Innenstadt konnte die wachsenden Pilgermassen bald nicht mehr fassen. Hinzu kamen die Beschwerden der Nachbarn, denen der Trubel suspekt war. Paskarakurukkal befragte die Götter – und die stellten ihren Priester vor eine schier unlösbare Aufgabe: Er, der Flüchtling ohne Geld, sollte einen Tempel bauen. Hier, mitten in Deutschland. Mitten in Hamm. Kostenpunkt: 2,85 Millionen DM.

Wie viel davon wohl in Farbe geflossen ist? Die rot-weiß-gestreifte Fassade des Flachbaus erinnert mich an ein Zirkuszelt. Bonbonbunt brennt sich die Außenfassade der beiden Tempeltürme Gopuram und Vimana in meine Netzhaut. Götterfiguren und Ornamente stapeln sich übereinander. Mit 17 Metern ist Gopuram der größere der beiden Türme, Vimana misst immerhin 11 Meter. Direkt unter Vimana liegt im Tempelinneren der Schrein für Sri Kamadchi Ampal, die Göttin mit den Augen der Liebe. Und die kann sich glücklich schätzen: Nirgendwo sonst auf dem europäischen Festland gibt es einen Hindu-Tempel so groß wie ihren: Allein der Innenraum umfasst 700 Quadratmeter.

Tatsächlich lässt sich die Geschichte des Tempels in Hamm nicht erzählen, ohne mit Heinz-Rainer Eichhorst gesprochen zu haben. Man darf es als ein kleines Wunder bezeichnen, dass der Architekt nicht einfach auflegte, als 1996 jener Anruf kam, der sein Leben für immer veränderte: „Können Sie einen Tempel bauen?“ Natürlich. Nie etwas anderes getan. 20 Jahre später muss Eichhorst noch immer schmunzeln, wieso gerade er ausgewählt wurde. Priester Paskarakurukkal hatte in den Gelben Seiten den Abschnitt mit den Architekten aufgeschlagen und seinen Zeigefinger blind die Namensliste entlanggeführt. Beim Namen Eichhorst stoppten die Götter den Finger. Manchmal kann es so einfach sein.

Gemeinsam mit Paskarakurukkal reiste Eichhorst zweieinhalb Wochen durch Südindien, um sich mit der fremden Architektur vertraut zu machen. Doch zurück in Deutschland wollte keine Bank das Wahnsinnsprojekt finanzieren. „Für mich war das Thema durch“, erinnert sich Eichhorst, doch der Priester blieb optimistisch: „Wenn man sagt, es geht, dann geht es.“ Und es ging. Zehn Monate hörte der Architekt nichts, dann rief Paskarakurukkal durch. Er wollte ihm etwas zeigen. Es war ein Scheck über 500.000 DM. „Das Geld hatte der Priester in ganz Europa gesammelt. Damit konnten wir das Grundstück kaufen und mit dem Bau beginnen.“

Tatsächlich entpuppte sich das Grundstück, das mir auf den ersten Blick so trist erschienen war, als Glücksgriff: Im Gewerbegebiet stand den Tempelbauern massig Platz für wenig Geld zur Verfügung. Zudem gibt es nicht nur einen nahegelegenen Autobahnanschluss, sondern auch Möglichkeiten für rituelle Waschungen. Wenn man schon nicht im Ganges baden kann, dann eben im Datteln-Hamm-Kanal. Zu sagen, die Hindus seien mit offenen Armen in Uentrop empfangen worden, wäre allerdings eine Lüge. „Die Landbevölkerung war anfangs strikt dagegen“, erinnert sich Eichhorst. „Das waren die gleichen Leute, die heute stolz ‚unser Tempel‘ sagen.“

Dass Cordhose und Sari so schnell zusammenwuchsen, mag an der besonderen Offenheit liegen, die die Hindus aus Hamm ihren Nachbarn entgegenbringen. Die spüre auch ich, mit meinen blonden Haaren und der hellen Hautfarbe eindeutig der Exot auf dieser Veranstaltung. Selbst wenn ich die Worte nicht verstehe, die blechern aus den Lautsprechern über den Tempelplatz schallen, selbst wenn mir die Rituale fremd bleiben, die vor meinen Augen praktiziert werden – ich fühle mich willkommen.

„Jeder, der interessiert ist, kann bei uns vorbeikommen, zuschauen und mitfeiern.“ Diese Einladung des Priesters gilt nicht nur für das Tempelfest, sondern für jeden Tag. Aber das große Fest zu Ehren von Sri Kamadchi Ampal lässt die Hemmschwelle sinken, im abgelegenen Industriegebiet vorbeizuschauen. Familien aus der Umgebung nutzen die Gelegenheit für einen Sonntagsausflug. Schüler und Studenten führen ihre nicht-hinduistischen Freunde herum. Nachbarn unterstützen die Gemeinde bei der Organisation. Auch Heinz-Rainer Eichhorst ist wieder als Helfer dabei. Und doch ist das Tempelfest keine Folkloreveranstaltung, keine Lightversion, die man Touristen zuliebe aufführt.

Stichwort Selbstgeißelungen. Manche Gläubige haben sich tatsächlich Speere durch Wange oder Zunge getrieben, andere ziehen den Tempelwagen an massiven Eisenhaken in ihrem Rückenfleisch durch die Straßen und tanzen sich zu rhythmischen Trommelschlägen in Trance. Schmerz und Erschöpfung zeigt sich auf den Gesichtern der Männer. „Das sind Kavadi-Tänzer“, erklärt mir eine junge Frau, die mit ihren Eltern aus Bielefeld angereist ist. Ihre Eltern verehren Kamadchi, die Schülerin betet aber lieber zu Ganesha, dem Gott mit Elefantenkopf. Ein guter Freund von ihr tanzt in diesem Jahr bei den Kavadi mit. „Die Götter haben seine Gebete erhört, er hat endlich eine Ausbildungsstelle gefunden. Dafür will er sich erkenntlich zeigen“, erklärt die Schülerin – und zieht mich plötzlich zur Seite.

Gerade noch rechtzeitig! Direkt vor meinen Füßen rollen drei Männer – Oberkörper frei – über den Asphalt, wälzen ihre Körper einmal rings um das gesamte Tempelgebäude. Eine Kokosnuss schleudern sie vor dem Tempeleingang so heftig auf den Boden, dass mich ein Stück Schale im Gesicht trifft. „Was machen die da?“ frage ich einen jungen Mann – seine Hautfarbe dunkel, die Haare schwarz, die Gesichtszüge indisch – und hoffe, dass er mich versteht. „Keine Ahnung, bin auch Christ.“ Mit einem Achselzucken verabschiedet er sich.

Inzwischen hat sich das Gedränge vor dem Tempeleingang etwas beruhigt. Die Gelegenheit scheint günstig, um Kamadchi und ihren Götterkollegen einen Hausbesuch abzustatten. Aber drinnen ist es noch immer packevoll. Einige Menschen fallen dort, wo sie gerade stehen, auf die Knie, ins Gebet vertieft. Andere bringen Teller mit Kokosnüssen und Bananen zu einem Tisch vor Kamadchis Schrein, um sie von Tempeldienern segnen zu lassen. Aber viele ruhen sich einfach nur aus oder sitzen in Grüppchen zusammen und quatschen. Faszinierend. In diesem Gotteshaus vertragen sich Alltag und Anbetung offenbar bestens. Mein Blick fällt auf einen Stapel H-Milch-Kartons. Er steht direkt neben Kamadchis Schrein.

Dann endlich entdecke ich Priester Paskarakurukkal in der Menge. Eine Traube von Menschen steht um ihn herum, wartet auf seinen Segen. Da möchte ich nicht stören. Aber es fällt mir schwer, den Blick von seinen Augen zu lassen. Diese Augen! Tief liegen sie in ihren Höhlen, so tief, dass man sich in ihnen verlieren kann. Kein Wunder, dass es ausgerechnet Kamadchi war, die Göttin mit den Augen der Liebe, der sich Paskarakurukkal verschrieben hat. Und plötzlich verstehe ich, wie ein einzelner Mann, ein Flüchtling ohne Geld und Besitz, in der Ferne einen Tempel bauen kann


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Mehr über den Sri-Kamadchi-Ampal-Tempel erfahren Sie unter kamadchi-ampal.olanko.de.


Diese Reportage ist im Juli 2015 als Teil 4 meiner Reihe „Deutschland extrem“ für die Online-Ausgabe von dbMobil erschienen. Aktuell leider nicht mehr abrufbar.


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