Wo die gemeine Steinlaus zubeißt, bleibt kein Stein auf dem anderen: Mit seinem kräftigen Gebiss bringt der winzige Nager ganze Gebäude zum Einsturz.
Als das Kölner Stadtarchiv am 3. März 2009 in sich zusammen fiel, war der Sündenbock schnell gefunden: Die Kölner Verkehrsbetriebe und ihre Bauarbeiten an einer neuen U-Bahnlinie. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse belegen hingegen: Nicht der Mensch trägt Schuld an diesem tragischen Unglück, sondern ein winziges, bislang für ausgestorben gehaltenes Wesen: die Steinlaus (Petrophaga lorioti).
Dass die Steinlaus über Jahrhunderte die Fauna der deutschen Ländereien prägte, ist in der breiten Bevölkerung längst vergessen. Tatsächlich lebten Mensch und Steinlaus für lange Zeit friedlich nebeneinander, bis im 20. Jahrhundert die so genannte „Steinlaus-Hysterie“ ihren Lauf nahm. Was genau dazu führte, dass die unschuldigen Tiere urplötzlich als Schädlinge verdammt und bis aufs Blut bejagt wurden, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Fest steht nur eins: Innerhalb weniger Jahre hatte es der Mensch geschafft, mithilfe von Sprühflaschen und Giftmittelchen ganze Landstriche zu entvölkern. Der berühmte Verhaltensforscher Bernhard Grzimek erklärte das Tier 1976 gar für ausgestorben. Ein etwas voreiliger Befund, wie wir heute wissen.
Noch immer hält sich unsere Kenntnis über die Steinlaus in Grenzen. Zwar ist es findigen Züchtern des Dortmunder Zoos mittlerweile gelungen, eine kleine Population in Gefangenschaft am Leben zu halten. Mit wildlebenden Petrophaga lorioti haben diese träge gewordenen Tiere freilich nur wenig gemein. Als gesichert gilt mithin folgendes: Unter allen mehrzelligen Lebewesen auf unserem Erdenrund ist die Steinlaus das kleinste: Erst bei 4000-facher Vergrößerung unter dem Mikroskop wird der kleine Nager für das menschliche Auge sichtbar. Wildlebend zeichnet sich die Steinlaus durch ein überaus scheues Naturell aus: Die Nähe von Menschen und größeren Säugern meidet sie so weit wie möglich. Nur in besonderen Hungersituationen wagt sich Petrophaga lorioti auch in dicht besiedelte Gebiete vor.
Die Steinlaus: Nager mit Überbiss
Wie es der Name schon andeutet, ernähren sich Steinläuse ausschließlich von Silikaten. Etwa 28 Kilogramm an Beton und Ziegelsteinen verzehrt ein geschlechtsreifes Männchen am Tag. Ein Weibchen in der Schwangerschaft benötigt hingegen die doppelte Menge – schließlich frisst es bereits für zwei. Um die schwere Nahrung zu zerkleinern, hat Mutter Natur die Steinlaus mit effektiven Kauwerkzeugen ausgestattet: Sechs messerscharfe Schneidezähnen ragen weit aus dem Maul des Tieres. Einen Schönheitswettbewerb würde Petrophaga lorioti mit diesem Überbiss freilich nicht gewinnen.
Mit Ausnahme des Menschen besitzt die Steinlaus keine natürlichen Feinde. Ihre geringe Größe bietet einen effektiven Schutz: Viele Jäger übersehen den winzigen Sechsbeiner, andere verschmähen ihn als äußerst unbefriedigende Mahlzeit. Entscheidet sich ein Steinkauz oder ein Turmfalke dennoch zum Angriff, flüchtet Petrophaga lorioti in den nächsten, sicheren Mauerspalt. Nur wenn sich eine Steinlaus in die Enge gedrängt fühlt, wird sie angreifen – dann allerdings mit äußerster Gewalt: Eine Begegnung mit den scharfen Zähnen einer Steinlaus kann äußerst schmerzhaft, in seltenen Fällen gar tödlich enden.
Bei aller Sympathie mit diesem possierlichen, kleinen Kerl sollten wir uns stets bewusst sein, es mit einem Tier zu tun zu haben, dessen Handlungen einzig auf natürlichen Trieben beruhen. Seien wir also nicht nachtragend, was den Zusammenfall des Kölner Stadtarchivs betrifft und freuen uns stattdessen über ein kleines Mirakel: Wie einst der Feuervogel Phönix hat sich die Steinlaus wieder aus Geröll und Zement erhoben. Mögen wir hoffen, dass der Mensch diese zweite Chance zu nutzen weiß – und in Zukunft friedlich mit diesem faszinierenden Wesen umgeht.
Nach über 30 Texten für die Geo.de-Tierwelt fiel mir auf, dass die Redaktion ein wichtiges Wesen vergessen hatte. Musste ich einfach nachliefern. Und jetzt alle: …diri diri dudl dö!