Göttliche Strafe oder Wunder der Natur? In der Dorfkirche von Kampehl liegt ein Mann begraben, der seit über 300 Jahren nicht verwesen will. Zu Besuch bei Deutschlands berühmtester Mumie.
Christian Friedrich von Kalebuz sieht nicht aus wie ein Mann, der schon seit über 300 Jahren tot ist. Eher wie ein Unglücksrabe, der über Nacht im Solarium vergessen wurde. Graubraun und fleckig klebt seine zu Leder getrocknete Haut an den Knochen; an manchen Stellen ist sie porös, an anderen glänzt sie speckig, wo neugierige Hände das Anfassen nicht sein lassen konnten. Dass diese Haut überhaupt noch vorhanden ist, kann man als kleines Wunder bezeichnen. Oder als Fluch Gottes, je nachdem.
Jähzorniger Adeliger
So wie er dort liegt, die Hände brav ineinander gefaltet, könnte man den einstigen Gutsherren von Kampehl für einen gottesfürchtigen Mann halten. Was freilich einer Verkennung der Sachlage gleichkäme: Denn Christian Friedrich von Kalebuz, Kornett im Regiment des Prinzen Friedrich II. von Hessen-Homburg und späterer Gutsherr von Kampehl in der Mark Brandenburg, war ein Arschloch. Ein jähzorniger Adeliger, der sich nahm, was er wollte, und dabei über 30 uneheliche Kinder zeugte.
Zugegeben – es waren andere Zeiten damals. Aber einen Mann aus Eifersucht umbringen, das galt auch im 17. Jahrhundert schon als schweres Verbrechen. Also wurde Kalebuz der Prozess gemacht, als 1690 der Schäfer Pickert erschlagen aufgefunden wurde. Zeugen gab es keine, aber alle waren sich sicher: Das konnte nur der aufbrausende Kalebuz gewesen sein. Ein weiteres Indiz: Pickerts Verlobte hatte sich zuvor geweigert, mit ihrem Gutsherrn ein Schäferstündchen einzugehen. Mit einem Reinigungseid vor Gericht zog sich Kalebuz schließlich aus der Affäre: „Wenn ich doch der Mörder bin gewesen, dann wolle Gott, soll mein Leichnam nicht verwesen.“ Quod erat demonstrandum.
Märchenstunde mit Pfarrsekretärin
Dorit Geu kennt die Legenden, die sich um den Edelmann mit dem schlechten Leumund ranken, längst auswendig. Heute liegt es an der Pfarrsekretärin und ihrem Team aus Kirchenmitarbeitern, all jenen Touristen, die ihren Weg in die kleine Feldsteinkirche des 100-Einwohner-Ortes gefunden haben, die Kalebuz-Gruft zu zeigen. Ein gutes Dutzend passt hinein, der Rest muss draußen warten, bis die viertelstündige Geschichts- und Märchenstunde vorbei ist und die nächste Runde beginnt.
„Manche Leute fragen immer noch nach, ob die Finger- und Fußnägel vom Kalebuz tatsächlich weiter wachsen und regelmäßig geschnitten werden müssen“, lacht die Frau. Ein fantasievoller Dorfschullehrer, der zwischen 1946 und 1967 durch die Gruft führte, hatte es mit der Wahrheit nicht ganz so ernst genommen. Damals kamen 100.000 Besucher pro Jahr, nach der Wende schossen die Besucherzahlen noch einmal kräftig in die Höhe. Mittlerweile ist es mit 50 Besuchern pro Wochentag etwas ruhiger geworden. „Die Leute kommen drei Mal zum Kalebuz“, sagt Geu. „Einmal als Kind, dann mit ihren Kindern und dann mit ihren Enkeln.“ Aber Kinder, das muss sie auch eingestehen, seien selten geworden unter den Besuchern.
Das Anstandstuch
An diesem Ferientag stimmt das nicht. Überraschend viele Familien mit Kindern drücken sich die Klinke in die Hand. Schauen, sondieren, tasten sich skeptisch an den Sarg mit dem ledernen Ritter heran. Eine Leiche besucht man nicht jeden Tag. Die älteren Herren interessiert derweil ein anderes Details aus Kalebuz‘ Leben: „Na, da wollen wir uns den Lustmolch mal angucken!“ grinst einer – und blickt sichtlich enttäuscht auf das weiße Anstandstuch, das den privatesten Bereich des Ritters bedeckt.
Doch manche sind auch enttäuscht von der eher einfachen Lokalität: Gruft, das klingt für viele nach unterirdischen Katakomben, nach Spinnenweben und Fackelgängen und dunklen Schatten voller Geheimnisse. Doch die Patronatsgruft derer von Kalebuz liegt praktisch ebenerdig, ein wenige Quadratmeter großer Anbau, angeflanscht an das Gotteshaus aus dem 13. Jahrhundert. Eigentlich sollte dieser Ort schon im Jahr 1794 abgerissen werden. Aber dann startete Kalebuz sein großes Comeback.
He’s alive! (mehr oder weniger)
Die Arbeiter staunten nicht schlecht, als sie den Doppelsarg des 1702 verstorbenen Gutsherren öffneten, um seine Überreste in die Friedhofserde umzubetten. Anstatt weniger Knochenreste grinste ihnen Kalebuz höchstpersönlich entgegen. Haut und Lippen waren zu Leder getrocknet, von der einst prächtigen Mähne waren nur wenige Härchen an Kopf und Kinn geblieben. Aber alles, was nach dem Tod normalerweise verwest, befand sich noch an Ort und Stelle. Selbst Kalebuz‘ innere Organe, wenn auch als verschrumpelte Mini-Versionen. So einen Leichnam konnte man nicht begraben. So einen Leichnam musste man ausstellen.
„Das biologische Rätsel über 300 Jahre alt bis heute wissenschaftlich ungelöst“, tönt eine reißerische Hinweistafel – weiße Frakturschrift auf Glasgrund – noch heute an der Eingangstür zur Gruft. Zugegeben – das klingt eher nach Jahrmarkt als nach Museum. Aber falsch ist es nicht. Denn welche Bedingungen dazu führten, dass Kalebuz zur Mumie wurde, darüber kann bis heute nur spekuliert werden. Selbst die Experten von der Berliner Charité konnten 1983 nur feststellen: Weder wurde der Adelige nach seinem Tod einbalsamiert noch vergiftet. Damit deutet alles auf eine natürliche Mumifizierung hin, die zwar kein Hexenwerk ist, in Mitteleuropa aber äußerst selten vorkommt.
A touchy subject
Heute vermutet man, dass Kalebuz an einer auszehrenden Krankheit wie Tuberkulose litt, die ihn schon vor dem Tod extrem abmagern ließ. Weiterhin könnte die besondere Sargkonstruktion aus innerem Tannen- und äußerem Eichensarg begünstigend bei der Austrocknung des Leichnams gewirkt haben. Auf diese Weise konnte genug Luft am toten Körper vorbeistreifen, Insekten blieben aber ausgesperrt.
Das eigentliche Wunder von Kampehl liegt derweil woanders: Wie konnte eine Mumie, mit der im Laufe der Geschichte dermaßen viel Schabernack getrieben wurde, die Zeiten unbeschadet überstehen? Erst in den 1970ern haben sie einen Glasdeckel über Kalebuz‘ letzte Ruhestätte gelegt, um zu viel Tuchfühlung mit den Besuchern zu unterbinden. Bis dahin hatte es zum guten Ton gehört, sich im offenen Sarg mit einer Unterschrift zu verewigen. Selbst ein eingeritztes Herz ist heute noch sichtbar: Ein Liebespärchen aus Berlin hat es hinterlassen, damals 1899. Wie in einem Bushaltestellenhäuschen.
Vielleicht hatten die Gemeindemitglieder auch einfach keine Lust mehr, sich morgens auf Mumiensuche zu begeben. Den Kalebuz für böse Scherze zu rauben, das hatte nämlich Tradition in Kampehl. Frischvermählten wurde der Leichnam während der Hochzeitsnacht schon mal ins Ehebett gelegt, da war man nicht zimperlich. Und dann ist da noch die Geschichte von den Leipziger Studenten, die dem Kalebuz 1865 die Stiefel stahlen, um daraus Bier zu trinken.
Der Mumienstreit
Apropos stehlen. Eine Geschichte gibt es, die würde man in Kampehl gern schnell wieder vergessen. Kurz nach der Wende wäre der Rittersmann nämlich beinahe selbst Opfer einer Entführung geworden – und zwar von oberster Stelle. Schon zu DDR-Zeiten hatten sich die evangelische Kirche und die örtliche Gemeinde darüber verworfen, wem die lukrative Kalebuz-Leiche gehörte (und wer die nicht geringen Eintrittsgelder kassieren durfte.) Seit 1957 musste sich die Kirche mit einer monatlichen Pachtzahlung von 30 Mark zufriedengeben, die erheblichen Mehreinnahmen flossen an die Stadt Neustadt (Dosse).
Dieser Streit eskalierte nach der Wende: Der damalige Pfarrer Freimark kündigte einseitig das erzwungene Pachtverhältnis, und wollte der Stadt die weitere wirtschaftliche Nutzung des Kalebuz untersagen. Der damalige Bürgermeister Bublitz reagierte mit einer unglaublichen Hauruck-Aktion: Heimlich ließ er einen neuen Ausstellungsraum für den Kalebuz herrichten, organisierte starke Hände und einen Traktor, um Sarg und Mumie bei Nacht und Nebel aus der Gruft zu schaffen. Erst in letzter Sekunde pfiff das Stadtparlament seinen Bürgermeister zurück. Man traf sich vor Gericht wieder, wo der Kirche in einem Vergleich die Rechte am Kalebuz zugesprochen wurden.
Mit Lust genießen
Noch absurdere Blüten trieb das Tauziehen um den „ledernen Ritter“, als sich kurze Zeit später Geschäftsleute die Namensrechte am ‚Kahlbutz‘ sicherten und ein gleichnamiges Bier („Mit Lust genießen“) auf den Markt warfen. Pfarrer Freimark schäumte, konnte aber nichts ausrichten. Erst der Blick in die alten Kirchenbücher zeigte eine Lösung auf: Dort wurde der Gutsherr in der alten Schreibweise „Kalebuz“ geführt, die man dankbar übernahm.
Vielleicht hätte man doch die Angebote der Japaner und US-Amerikaner doch annehmen sollen, die während der Olympiade 1936 bis zu 250.000 US-Dollar für die Mumie zahlen wollten? Den Kampehlern hätte es sicher eine Menge Ärger erspart. Aber auch eine lukrative Touristenattraktion genommen, die den Menschen hier nicht allein das Einkommen sichert.
„Wir sind nur 100 Leute“, erklärt mir Dorit Geu, während sie zwischen zwei Führungen schnell auf die Toilette eilt. „Aber dank Kalebuz sieht man jeden Tag neue Menschen auf der Straße. Das tut dem Ort gut.“
Diese Reportage ist im Rahmen meiner Reihe „Deutschland extrem“ für die Online-Ausgabe von DBmobil 2015 erschienen. Aktuell leider nicht mehr abrufbar.
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