Sich mit einer Steuererklärung zu beschäftigen, gilt Menschen, die künstlerisch tätig sind, gemeinhin als ein Graus. Nicht so Mariana Castillo Deball. Die Künstlerin stellt eine Steuerliste aus dem Aztekenreich in den Mittelpunkt ihrer neuen Installation für das Humboldt Forum. Ein Atelierbesuch.
Der Tag ist noch jung, als Mariana Castillo Deball die Tür zu ihrem Atelier in Berlin-Schönefeld aufschließt. Etwas versteckt liegt es, am Rande der hochtrassigen U-Bahnlinie 2, im hintersten Hof des Gewerbehofs Bülowbogen, einem historischen Backsteinbau, in dessen Wänden einst das erste Berliner Adressbuch gedruckt wurde.
Ein passender Ort für eine Künstlerin, deren Familie seit Generationen eine eigene Druckerei besitzt. Vor zwei Jahren erspähte Castillo Deball, die 1975 in Mexico geboren wurde und seit nunmehr 10 Jahren in Berlin lebt, während einer U-Bahnfahrt eben jene Räumlichkeiten. Es war Liebe auf den ersten Blick.
Dem Besucher bleibt indes nur Staunen ob des Platzes, der sich ihm hier eröffnet: An einem fast wolkenlosen Frühlingstag wie diesem flutet helles Sonnenlicht durch die hohen Fenster des zweigeschossigen Raums, dessen Decke zur Hälfte entfernt wurde. Eine Treppe führt hinauf zu einer Empore, deren durchscheinender Gitterrostboden Menschen mit Höhenangst Probleme bereiten dürfte und Heimstätte ist für eine kleine Bibliothek mit Recherchematerialien. Von hier oben fällt der Blick wieder herab auf zahlreiche, überall im Raum verteilte weiße Tischelemente – Inseln der Kunst, auf denen die aktuellen Projekte, manche in Modellform, manche in Originalgröße, ihrer Fertigstellung harren.
Eins dieser Projekte, die Installation „Codex Humboldt Fragment 1/Codex Azoyú Reverso“, wird schon bald im Humboldt Forum zu sehen sein. Ganz bewusst setzt sich das Werk mit einem Exponat aus der ethnologischen Sammlung des Museums auseinander. Denn es war Alexander von Humboldt selbst, der während seines Besuchs in Neuspanien (1803-1804, heute Mexiko) 16 Fragmente verschiedener indigener Bilderhandschriften erwarb. Das wohl bekannteste von ihnen, der „Codex Humboldt Fragment 1“ und sein (später in Mexiko aufgefundener) Gegenpart, der „Codex Azoyú Reverso“, stammen aus dem 16. Jahrhundert und stellen piktografische Aufzeichnungen von Steuerzahlungen dar, die die unterworfene Tlapa-Region in Guerrero an ihre aztekischen Eroberer zu liefern hatte – kurz bevor das Aztekenreich seinerseits von den Spaniern erobert wurde.
„Erst als die beiden Codexfragmente 1940 miteinander verglichen werden konnten, war die Erforschung der Entwicklung des Steuersystems des Aztekenreichs über einen Zeitraum von 36 Jahren möglich“, sagt Castillo Deball. „Diese Information konnte bis heute kein anderes mesoamerikanisches Bilddokument preisgeben.“ Dieses Material inspirierte Castillo Deball zu einem raumgreifenden Kunstwerk, dessen 320 Keramikplatten bald die südliche Stirnseite im Ausstellungssaal Mesoamerika bedecken werden. „Auf der Wand bleibt nur die Abgabenliste sichtbar, die Details von Zeit und Ort werden ausgeblendet“, führt die Künstlerin aus.
„Ich arbeite für Ausstellungen, nicht für den Kunstmarkt“, stellt Castillo Deball nach einer schnellen Runde durch ihr Atelier klar und nippt an ihrer Tasse Kaffee. Der Kunstmarkt sei ihr viel zu stressig. Seine Mechanismen scheinen auch schwer vereinbar mit ihrer Arbeitsweise, eben jenem Weg zu folgen, den die Neugier ihr vorgibt und der sie immer wieder in Kontakt mit ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachgebieten wie der Mathematik, der Geologie, der historischen Forschung oder der Philosophie bringt.
Castillo Deballs Erfolg tut dieser vielfältige Ansatz keinen Abbruch – ganz im Gegenteil: Bereits 2012 stellte sie auf der documenta 13 aus. Ihre Arbeit „Uncomfortable Objects“, eine geschwungene Stuckmarmor-Wand, beruht auf geometrischen Modellen des Mathematikers Felix Klein. Kleins Bestreben, mithilfe bildhauerischer Techniken abstrakte mathematische Gleichungen in konkrete Formen zu überführen, fasziniert die Künstlerin bis heute.
Ein Jahr später folgte der Preis der Nationalgalerie Berlin für junge Kunst. „Parergon“, die Ausstellung, die daraus erwuchs, festigte Castillo Deballs Bild in der Kunstwelt als Grenzgängerin zwischen Forschung, Kunst und Kuration. Tatsächlich sind es oft die vergessenen und vernachlässigten Dinge, die ihr Interesse wecken, die Kuriositäten und Stiefkinder der Archivare, die weggeschlossen und abseits der Öffentlichkeit in den Magazinen der Museen verstaubt wären, hätte die Künstlerin sie nicht wieder ausgegraben, in andere Kontexte gestellt und so zu etwas Neuem transformiert.
Auch wenn Castillo Deballs Werke für „Parergon“ durchaus für sich sprechen, können die einzelnen Gegenstände doch teils ungeheuerlichen Geschichten erzählen: Da wäre die Totenmaske des jüdischen Malers Max Liebermann zu nennen, die nach Liebermanns Tod 1935 ausgerechnet von Arno Breker abgenommen wurde, einem Bildhauer, der von Hitler persönlich hofiert worden war. Oder der Rollstuhl mit der Aufschrift „Null Problemo“, der auf einen unglaublichen Kunstraub aus dem Jahre 1989 (und die TV-Serie „Alf“) anspielt: Damals hatten sich Diebe mithilfe eines ähnlichen Rollstuhls getarnt, um Carl Spitzwegs Gemälde „Der arme Poet“ aus der Nationalgalerie zu entwenden.
Das Bild einer vor allem dem Rechercheprozess verhafteten ‚Kuratorin der Kunst‘, mit der sich Castillo Deball spätestens seit dieser hochgelobten Ausstellung konfrontiert sieht, greift aber zu kurz und wird von der Künstlerin als zu einengend abgelehnt. Genauso kritisch steht Castillo Deball dem Versuch gegenüber, ihre Verbindung zu Mexiko im Sinne einer großen Identitätsfrage zu interpretieren und in den Vordergrund der Rezeption ihres Œuvre zu stellen.
So bleibt am Ende dieses Atelierbesuchs die Erkenntnis, dass Mariana Castillo Deball eine Meisterin kreativer Prozesse ist: Immer wieder nämlich zerschlägt sie Gewohntes in Scherben; und immer wieder baut sie aus eben diesen Scherben eine neue und ungewohnte Welt.
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