Die Kondolenzmilch ist alle

Kreatives Schreiben geschieht meist in den eigenen vier Wänden und hinter verschlossener Tür. Was aber, wenn wir die Wände einreißen und gemeinsam unserer Kreativität freien Lauf lassen? Bei unseren Coverlakaien-Schreibabenden finden wir’s heraus. Wir laden zum gemütlichen Schreiben bei Bier und netten Gesprächen in einer Bar. Das einzige, was wir vorgeben, ist ein Titel! Wer mag, trägt seine frisch geschriebene Geschichte anschließend vor. Diese Geschichte ist beim letzten Abend entstanden.

Im Beerdigungsinstitut Immerfrieden herrschte helle Aufruhr. „Unmöglich!“ rief Immerfrieden-Chef Ingo Immerfrieden. „Ein Skandal!“ empörte sich die Catering-Verantwortliche Lilian Leckerbeis. Und selbst Familienhund Knud knurrte böse aus seiner Ecke. So etwas hatte es in der gesamten, immerhin schon 78 Jahre andauernden Erfolgsgeschichte des Traditionsunternehmens noch nicht gegeben! Zugegeben – das eine oder andere Malheur war den Immerfriedens natürlich schon unterlaufen. Ein vertauschter Leichnam hier, eine Feuerbestattung anstelle einer Erdbestattung da – so etwas blieb im Beerdigungsbusiness nicht aus. Aber bislang ließ sich noch jedes Problem lösen. Selbst die große Platenkuchenkrise von 1984 hatte dem guten Ruf des Unternehmens nicht schaden können!

Aber dies hier war etwas anderes! Mit einem Problem dieser Größenordnung hatte es Familie Immerfrieden noch nie zu tun gehabt. Begonnen hatte alles am Morgen der großen Doppelbeerdigung der Koch-Zwillinge, einem Geschwisterpaar aus dem Nachbarort Himmelpforten, das stets alles im Leben gemeinsam verrichtet hatte. Und nun eben auch den allerletzten Teil.

Wer nun an einen geplanten Doppelselbstmord denkt, der liegt grundfalsch. Karola und Klara Koch hatten ihr Leben als Kandidatinnen der beliebten Realityshow und Dauerwerbesendung „Tupper extrem – heiße Stunts mit Plastikware“ ausgehaucht. Ihre Wette, sich mithilfe eines selbstgebauten Floßes aus zusammengebundenen Tupperware-Behältern den Rheinfall in Schaffhausen hinunterzustürzen, war zwar aussichtsreich gestartet, hatte im Finish allerdings einen lebensentscheidenden Dämpfer erhalten.

Und so lagen Karola und Klara nun hier, gemeinsam aufgebahrt in der überlebensgroßen Replik einer doppelstöckigen Tupper-Brotdose aus dem Winterkatalog 1988/89. Das ganze Dorf würde nach der Beerdigung zum großen Leichenschmaus vorbeischauen – und nun das!

Kreidebleich war Lilian Leckerbeis aus dem Lager gerannt, ihr Mund zu einem schockierten O geformt. „Die Kondolenzmilch!“ hatte sie gerufen, „Die Kondolenzmilch ist alle!“ Es war eingetreten, womit nun wirklich niemand in der Familie gerechnet hatte. Denn diese so genannte Kondolenzmilch war zum Markenzeichen des Familienbetriebs geworden, nachdem Ingos Vater Ingolf, der vor kurzem verstorbene Familienpatriarch, auf die glorreiche Idee gekommen war, die kleinen Plastikschälchen Kaffeesahne, die beim Leichenschmaus gemeinhin zum Filterkaffee gereicht wurden und die sich besonders bei Damen und Herren gehobeneren Alters großer Beliebtheit erfreuten, mit pfiffigen Sprüchlein und Lebensweisheiten am Rande der Pietät zu versehen. Zwar waren die Immerfried’schen Kaffeesahnepäckchen in der lokalen Presse schnell als „Beerdigungsglückskekse“ verschrien gewesen, erfreuten sich bei der Klientel aber einer großen Beliebtheit, hoben die augenzwinkernden Texte doch die an einem solchen Tag erwartungsgemäß eher gedrückte Stimmung auf ein erträgliches Mittelmaß.

„Sterbe glücklich, sterbe froh, wie der Mops im Haferstroh!“
„Nun liegt er in der Erden, wir dürfen endlich erben.“
„Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen“

Ingolf Immerfrieden, der nicht nur Familienpatriarch, sondern auch äußerst preisbewusst gewesen war, hatte Ende der 1980er eine Großbestellung Kondensmilch mit Sonderaufdruck in Auftrag gegeben und dabei eine Kaufwut an den Tag gelegt, die es durchaus mit einem gewissen Herrn Lohse aufnehmen konnte. Ja, es musste sogar ein großer Lagerraum im Beerdigungsinstitut freigeräumt werden, um die Massen der Milchplastikschälchen unterbringen zu können. Und so hatte in den vergangenen 40 Jahren niemand mehr einen Gedanken daran verschwendet, dass irgendwann einmal dieser schier unerschöpfliche Nachschub zuneige gehen könnte. Die Kondolenzmilch war immer da gewesen und es würde sie auch immer geben. Bis heute morgen.

Nun war die Sorge entsprechend groß. Wie würde das Dorf, nein: wie würde die Welt darauf reagieren, wenn zum ersten Mal in 40 Jahren keine kecken Sprüche den Leichenschmaus im Hause Immerfrieden auflockern würden?

Schon versuchte Ingo Immerfrieden Kontakt mit eben jener Molkerei aufzunehmen, die einst die Kaffeesahneverpackungen bedruckt und geliefert hatte. Doch der Anschluss unter der vierstelligen Telefonnummer ließ sich einfach nicht mehr herstellen. „Eine Katastrophe!“ rief der Firmenchef und riss in einer Geste hilfloser Panik beide Hände in die Höhe.

Doch just in diesem Moment der Hoffnungslosigkeit, als Ingo Immerfrieden schon alle Hoffnung fahren gelassen hatte, schwang plötzlich die doppelflügige Haustür auf und ein helles Licht durchflutete den Raum. „VERZAGET NICHT!“ sprach eine Stimme – und eine Gestalt trat aus dem Gegenlicht. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte der verdatterte Bestatter tatsächlich an eine Kondolenzmilch-Intervention von allerhöchster Stelle. Aber dann trat doch nur Irina, die jüngste Tochter der Immerfriedens nach vorne. „Nee, jetzt ehrlich, kommt mal wieder klar.“

„Tochter! Das musst ausgerechnet DU sagen. DU hast dich doch noch nie um unserer Familientraditionen geschert“, erboste sich Ingo Immerfrieden fuchsteufelswild. „Die Kondolenzmilch ist der Grundpfeiler unseres Geschäfts. Unser Alleinstellungsmerkmal. Ohne sie wären wir nur…“ Er senkte seine Stimme. „…ein Beerdigungsinstitut unter vielen.“

„Das mag ja sein, Vatilein“, flötete Irina fröhlich. „Aaaaaaber… Ich habe mir gestern noch einmal auf Youtube die Tupperware-extrem-Sendung reingezogen. Und bei der Vorstellung der Kandidaten wurde eeeeeeeeextra darauf hingewiesen, dass nicht nur die Koch-Zwillinge, sondern die gesamte Familie Koch seit Generationen an Laktoseintolerenz leidet.“

„Na und?“ rief Ingo. „Ich weiß nicht, was das jetzt mit unserer Krise…“

„Vatilein, eure ach-so-tolle Kondolenzmilch hätte bei euren Leichenschmaus-Gästen zu einer mittelschweren Klo-Katastrophe geführt.“ Irina grinste. „Und das nicht nur wegen der beschissenen Sprüche…“

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