Immo Ortlepp: Der Hirschrufer von der Wedemark


Er ist der Mann, dem die Hirsche vertrauen: Immo Ortlepp gehört zu den besten Hirschrufern dieses Landes. Ich habe mich mit dem Berufsjäger ins Unterholz geschlagen.

Der Tag hat sich schon verabschiedet, als wir auf der Wiese, keine 200 Meter vom Waldrand entfernt, Stellung beziehen. Ausgerechnet hier, im kleinen Örtchen Starkshorn zwischen Eschede und Hermannsburg liegt der größte Hirschbrunftplatz in ganz Deutschland. Warum, weiß niemand so genau.

„Wahrscheinlich hat es etwas mit der Erdstrahlung zu tun“, spekuliert Immo Ortlepp. Der Berufsjäger aus der Wedemark zuckt mit den Schultern. An der Ruhe kann es jedenfalls nicht liegen: Immer wieder brausen Autos die kleine Kreisstraße entlang. „Theoretisch könnten sich die Hirsche viel ruhigere Orte aussuchen“, sagt der 54-Jährige. Aber sie kommen hierher, pünktlich zur Brunftzeit zwischen September und Oktober. An die vierzig Hirsche buhlen jedes Jahr um die Gunst der Damen. Seit Jahrhunderten geht das schon so.

An ihre menschlichen Zuschauer -Deer-Spotter, die aus ganz Deutschland anreisen – hat sich das Rotwild längst gewöhnt. Sofern die einen gewissen Sicherheitsabstand einhalten. „Es gibt eine unsichtbare Grenze“, erklärt mir Ortlepp und zeigt auf ein paar Bäume, zwanzig Meter von uns entfernt. Tatsächlich! Als ein junges Pärchen zu weit vorprescht, verstummt das Konzert der Lust für eine Weile.

Nun ist mein Begleiter gefragt: Aus der Jackentasche zieht er ein ellenbogenlanges Rohr, das sich teleskopartig auseinander- und wieder zusammenschieben lässt, umschließt die kreisrunde Öffnung mit seinen Lippen und legt los.

Baaaaooooaaahhh-üüüüüöööö-üüüüüöööö-üüüüüöööö.

Es klingt, wie ein Brontosaurus mit Verstopfung. Mit anderen Worten: Es klingt genau richtig.

Baaaaooooaaahhh-üüüüüöööö-üüüüüöööö-üüüüüöööö, tönt es aus dem Wald zurück. Das Gespräch hat begonnen.

„Ich bin ein Neuling, der die Lage hier mal checken will“, übersetzt Ortlepp. Die erste Kontaktaufnahme, sie muss wohl überlegt sein. Ganz genau muss der Hirschrufer sein Gegenüber einschätzen. Klingt sein Röhren zu tief, also zu alt und zu erfahren, könnten jüngere Platzhirsche samt Kahlwildrudel Reißaus nehmen, weil sie den Kampf mit dem vermeintlich stärkeren Kontrahenten scheuen. Klingt Ortlepp dagegen zu jung, lässt sich das Alttier erst gar nicht auf ein Gespräch mit dem Jungspund ein.

„Hirschrufen ist eigentlich das falsche Wort“, klärt mich der Jägersmann auf. Er nennt es lieber Hirschgespräch. Denn Rotwild zu sich heranzulocken, das gelänge selbst dem besten Rufer nicht. Stattdessen geht es darum, den Hirsch in einen Dialog zu verwickeln und sich währenddessen heranzupirschen. Die unweigerlichen Trittgeräusche, die dabei entstehen, machen dem Tier nichts aus. Es denkt, ein Artgenosse würde sich nähern. Nur auf den Wind sollte man peinlichst achten. Denn das feine Näschen des Hirsches lässt sich nicht so leicht austricksen wie sein Gehör.

Sterben müssen übrigens nur die wenigsten Tiere, die sich vom Hirschrufer täuschen lassen. Das Fleisch eines brunftigen Hirschs schmeckt einfach nicht, außerdem bliebe nicht viel für den Teller übrig: Die Männchen verlieren in diesem strapaziösen Monat bis zu 40 Kilo Lebendgewicht. „Die hohe Kunst liegt darin, so nah ranzukommen, dass man seinen Hut ins Geweih hängen kann.“ Ein einziges Mal, so versichert mir Ortlepp, sei ihm dieses Husarenstück gelungen. „80 Meter ist der Hirsch mit meinem Hut gelaufen!“ Darauf ist er wirklich stolz, viel stolzer noch als auf den Gewinn der Deutschen Meisterschaft im vergangenen Jahr.

In diesem Jahr hat es nicht ganz gereicht. Statt Ortlepp stand Jagdkollege Andreas Töpfer ganz oben auf dem Treppchen. Aber sein erklärtes Ziel, unter die ersten drei zu kommen, hat er geschafft und sich damit für die Europameisterschaften qualifiziert. Nicht, dass die Deutschen dort den Hauch einer Chance hätten. In diesem Jahr war es wieder ein Pole, der den Sieg davontrug. Der beste Deutsche landete abgeschlagen auf Platz 18 – von 27.

Dafür gibt es eine gute Erklärung: „Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden hierzulande keine Wettbewerbe mehr statt“, führt Ortlepp aus. Die Kunst des Hirschrufens sei nur noch von einer Handvoll Jäger weitergegeben worden. Das änderte sich erst, als die Zeitschrift „Wild & Hund“ den Wettbewerb 1999 wieder ins Leben rief. „Heute gibt es in ganz Deutschland an die 2000 Hirschrufer – aber nur 200 von ihnen trauen sich auf eine Bühne“, weiß Ortlepp. Ganz anders in den ehemaligen Ostblockstaaten: In Ungarn messen sich allein 20.000 Wettkampfrufer untereinander. „Das hat natürlich eine ganz andere Qualität.“

Ortlepp selbst lernte das Rufen im Rahmen seiner Ausbildung zum Berufsjäger im Odenwald. „Damals hab ich die gesamte Brunft über nicht geschlafen und auf Hochsitzen gelauscht.“ Das ist nur fair. Schließlich kann sich auch der Hirsch während dieser vier Wochen nur zwei bis vier Minuten Tiefschlaf pro Tag leisten.

Während einige Hirschrufer auf Hilfsmittel wie Tritonmuschel oder den hohlen Stängel vom Riesenbärenklau setzen, schwört Ortlepp auf sein braunes Papp-Bagalit-Rohr, das er in einem Jagdgeschäft in der ehemaligen DDR erstanden hat. Ganz ohne Hilfsmittel geht es nämlich nicht: Die Luftröhre des Menschen ist wesentlich kürzer als die des Hirsches. Daneben braucht es vor allem Geduld – und ein bisschen Musikalität. „Aber sonst kann das eigentlich jeder lernen“, sagt Ortlepp.

Bestes Beispiel: Stefan Ganß. Der Reporter des MDR-Mittagsmagazins wurde 2012 eher versehentlich Thüringens Hirschrufmeister – nach nur zwei Stunden Training mit Ortlepp und mit einer leeren Klopapierrolle als Stimmverstärker! „Der hatte in seinem ganzen Leben noch nie einen Hirsch gehört, aber ein wahnsinnig gutes akustisches Gedächtnis“, lacht der Jäger. Bei den deutschen Meisterschaften langte es dann aber doch nur für einen hinteren Platz. Die finden übrigens nicht in freier Wildbahn statt, sondern in einer Messehalle in Dortmund. Und statt echten Hirschen müssen die Teilnehmer eine Jury aus erfahrenen Hirschrufern u.a. in den Disziplinen „suchender Hirsch“, „Hirsch beim Rudel“, „vor dem Kampf“, „Siegesruf“ und „abgebrunftetes Tier“ überzeugen.

„Das Rampenlicht ist nicht für jeden was“, hat Ortlepp beobachtet. So manchem gestandenen Rufer hat es schon im Angesicht von Publikum und Kameras die Stimme verschlagen. Aber so wenig der Jäger aus der Wedemark das Blitzlichtgewitter auch scheut (er war schon bei Stefan Raab zur Gast) – sein Lieblingsort ist doch hier, mitten in der Natur.

Stockdunkel ist es mittlerweile geworden auf dem Brunftplatz. Diejenigen, denen es nur um das schönste Foto ging, haben längst eingepackt. Geblieben sind die Konzertbesucher, die Zuhörer, die Genießer. Und natürlich die unsichtbaren Hauptdarsteller des Abends, die Hirsche, ihre Stimmen vereint im Chor der Hormone.

Ortlepp nimmt die Herausforderung an. Ein letztes Mal kramt er sein Teleskoprohr hervor und setzt den Brontosaurier aufs Töpfchen.

Baaaaooooaaahhh-üüüüüöööö-üüüüüöööö-üüüüüöööö. Das Echo folgt auf dem Fuße.

Dann knufft mir der Hirschrufer in die Seite und flüstert mir eine alte Waidmannsweisheit zu. „Ein Glück ist, dass in Liebespein, die Menschen nicht so laut wie Hirsche schrei’n.“ Ich denke an meine Nachbarn vom Innenhof. Und schweige.


Diese Reportage war zuerst auf der jetzt nicht mehr zugänglichen Website des Mobil-Magazins der Deutschen Bahn zu lesen.

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