Leistungsdruck beim Sex: Ich, Hengst!?

Zarte Liebhaber und telefonmastgroße Ständer? Eine Reportage über Sex, männliche Rollenklischees und Leistungsdruck im Bett.

Eigentlich soll Sex ja Spaß machen. Raus aus den Klamotten, rein ins Vergnügen. Wenn da nicht dieser ständige Druck wäre. Für alles, was im Bett geschieht, fühle ich mich verantwortlich. Ich, der Kerl. Ich ganz allein. Nur wenn meine Sexpartnerin nach einem Wahnsinnsorgasmus in die durchgeschwitzten Kissen fällt, bin ich zufrieden. Endgegner besiegt, Mission accomplished. Wenn das nicht klappt – Megafail. So hoch hängt die Latte. Und das ist ein Problem.

Manchmal würde ich gerne einen Gang runterschalten, mich verwöhnen und überraschen lassen, ohne gleich den nächsten Move im Kopf durchzuspielen. Aber ich trau mich nicht. Sprechen die Reaktionen auf „Shades of Grey“ nicht ihre eigene Sprache: Gleichberechtigung schön und gut, aber beim Sex soll der Kerl bitteschön sagen, wo’s langgeht?!

Die Frau will zuerst vom Mann erobert werden. Erst danach ist auch sie bereit, eine aktive Rolle einzunehmen.

Kurt Seikowski

Konkrete Studien zu diesem Thema gibt es leider keine. Klar, Sadomaso steht als Sexfantasie ganz oben (29 Prozent) auf der Liste der deutschen Singledamen, wie eine Umfrage der  Partnerbörse eDarling im Jahr 2013 ergab. Zudem fand die Webseite „Kink Research“ bereits 2009 heraus, dass eine deutliche Mehrheit an Frauen die unterwürfige Rolle bevorzugt: Nach einer Auswertung von zehn wissenschaftlichen Studien kommen auf jede dominante Frau durchschnittlich vier devote. Aber Fantasien zu haben heißt noch lange nicht, sie auch auszuleben. Und das feste Rollengefüge einer BDSM-Beziehung lässt sich auch nur schwer mit dem einer klassischeren Beziehungsform vergleichen.

Wie im Tierreich?

Ich rufe Helmut Volkmann an und frage den Paartherapeuten der Diakonie Osnabrück nach seinen Erfahrungen. „Frauen wissen zu schätzen, wenn der Mann bisweilen die Initiative ergreift“, sagt Volkmann. Aber er sagt auch: „Ich bin noch keiner Frau begegnet, die wollte, dass ihr Mann das ständig macht.“ Wieso nur kommt es mir trotzdem so vor? Und warum spüren so viele andere Männer diesen Druck? Als österreichische Männer 2012 nach den möglichen Gründen eines Bordellbesuchs gefragt wurden, landete die Antwort „Sex ohne Verantwortung und Forderungen seitens der Frau“ immerhin klar auf Platz eins (71,2 Prozent).

„Im Grunde ist es wie im Tierreich“, verrät mir Kurt Seikowski. „Die Frau will zuerst vom Mann erobert werden. Erst danach ist auch sie bereit, eine aktive Rolle einzunehmen.“ Wären diese Sätze nachts an der Theke gefallen, ich hätte sie als sexistisch abgetan. Den ersten Schritt muss immer der Typ machen. Is‘ klar. Aber Seikowski forscht zu diesem Thema. Er ist Sexualwissenschaftler an der Uni Leipzig. Ich merke: Es ist schwierig, über Aktivität und Passivität im Bett zu sprechen, ohne in Geschlechterklischees oder Political-Correctness-Zwänge zu verfallen.

Erwartungsdruck lastet auf allen

Über eine Freundin erhalte ich Kontakt zu Nick. Der 29-jährige Außendienstler, der eigentlich anders heißt, teilt meinen Eindruck, stets der Bringer im Bett sein zu müssen: „Manche Frauen geben den Anschein, gar nicht zu wissen, was sie wollen und ‚lassen es über sich ergehen‘.“ Leistungsdruck stellt sich für Nick aber vornehmlich zu Beginn einer Beziehung ein: „Die Unsicherheit überwiegt, ihr gefallen und Freude bereiten zu wollen, ohne zu wissen, wo genau Ihre Vorlieben liegen.“ Allerdings gebe sich diese Phase mit näherem Kennenlernen schnell. Nick glaubt, dass auf allen Sexpartnern Erwartungsdruck laste – allerdings nach Geschlechtern getrennt: „Der Mann muss immer und zu jeder Zeit einsatzbereit und überdurchschnittlich ausgestattet sein, während die Frau alles mitmachen, Lust dabei empfinden und aussehen muss wie der personifizierte Sex.“ Da ist sie wieder, diese verdammte Einteilung in weiblich-passiv und männlich-aktiv. Aber sehen es Frauen eigentlich genauso?

Manche Frauen geben den Anschein, gar nicht zu wissen, was sie wollen und ‚lassen es über sich ergehen‘.

Nick

Linda nippt an ihrer Tasse Tee und überlegt. „Grundsätzlich finde ich es schwierig beim Sex in aktiv und passiv zu unterscheiden“, sagt die 31-jährige Journalistin. „Wenn ich mich hingebe, kann ich dabei aktiv sein, mein Becken bewegen, ihn streicheln, ansehen. Wenn ich die Initiative ergreife ebenso.“ Ob sie im Bett eher die Initiative ergreift, habe sich bei ihr eher nach der Persönlichkeit der Partner ergeben. „In meinen vorherigen Beziehungen war ich häufiger der dominante Part, momentan bin ich häufig devoter – das hat sich bei von Anfang an so eingespielt.“ Als die beiden zum ersten Mal versuchten, die Rollen zu tauschen, gab es Probleme: „Ich hatte den Eindruck, dass es ihm schwieriger fällt, die Kontrolle abzugeben. Es wurde einfach komisch. Ich habe mich nicht mehr wohlgefühlt, weil ich unsicher wurde und Angst hatte, etwas falsch zu machen. Und das verunsicherte ihn wiederum.“

Geben und nehmen

Ich gebe zu: Loslassen fällt mir tatsächlich schwer – auch außerhalb des Betts. Als mein Wunsch nach einer aktiveren Sexpartnerin kürzlich bei einem One-Night-Stand erfüllt wurde, wusste ich nicht damit umzugehen. Was für eine paradoxe Situation! Einerseits wünsche ich mir eine Frau, die auch mal das Heft in die Hand nimmt, andererseits habe ich so viel Angst vor diesem Kontrollverlust, dass ich mich gar nicht fallenlassen kann.

Ich kam mir egoistisch vor, weil ich Karen nichts gegeben und nur genommen hatte.

Ken

Immerhin stehe ich nicht alleine da. Der US-Psychologe David Schnarch schreibt in seinem Buch „Die Psychologie sexueller Leidenschaft“ von Ken und Karen, einem Paar in den Fünfzigern, die nach 26 Jahren ihre eingefahrenen Rollen durchbrechen konnten. „Ich band ihm die Hände am Bett fest, damit ganz klar war, dass ich am Drücker bin. Ken hatte den Mut, sich von mir nehmen zu lassen“,  zitiert Schnarch seine 53-jährige Patientin. Aber er berichtet auch von Schuldgefühlen, die Karens Mann dabei empfunden hatte: „Ich kam mir egoistisch vor, weil ich Karen nichts gegeben und nur genommen hatte.“

Die Rollenbilder von gestern heute

Das Problem sind die alten Rollenklischees, erklärt mir Volkmann: Männer weinen nicht. Männer klagen nicht. Männer zeigen keine Schwäche. Und natürlich haben echte Männer keine sexuellen Probleme. „Das ist natürlich Quatsch. Und dann können sie nicht darüber reden, weil ein echter Mann ja keine Schwäche zeigt“, zeigt der Diplom-Psychologe das Dilemma auf. Ich merke – unsere Gesellschaft ist noch nicht so weit, wie sie es manchmal gern hätte. Die Mantras von damals hallen noch immer in unseren Köpfen nach – auch, weil die Medien einfach nicht von ihnen ablassen können. Bauknecht muss noch immer wissen, was Frauen wollen. Und Frau muss ihre Gläser bis zum Sankt Nimmerleinstags blankwienern, damit es auch klappt mit dem Nachbarn.

Die Männer haben viel über ihre ‚weibliche‘, gefühlsbetontere Seite gelernt.

Helmut Volkmann

Einen Vorteil hatte das alte Rollenbild aber: „Früher war sicher nicht alles besser, aber es war eindeutiger“, so der Diplom-Psychologe. Um als richtiger Mann zu gelten, habe es vor 30 Jahren eben ausgereicht, einem Versorgerjob für die Familie nachzugehen, der aktive Part im Bett zu sein und gelegentlich handwerkliche Aufgaben im Haushalt zu übernehmen. „Heute ist die Männlichkeitsdefinition komplexer geworden“, weiß Volkmann. „Die Männer haben viel über ihre ‚weibliche‘, gefühlsbetontere Seite gelernt.“ Aber sie seien auch verunsichert, was die Frauen nun genau von ihnen erwarten. Einerseits sollen sie über ihre Gefühle reden, andererseits gilt der schweigsame Fremde noch immer als Sexsymbol. Einerseits sollen sie zarte Liebhaber sein, andererseits sehen sie im Netz „telefonmastgroße Erektionen, die dampfhammermäßig irgendwo reinrammeln“.

Teufelskreis Performanceangst

Auch auf der Frauenseite herrscht mitunter Ratlosigkeit, welche Rolle der perfekte Mann im Bett einzunehmen habe – und wie sich Frau zu ihm verhalten soll: „Manche Feministinnen wollen den Frauen einreden, dass sie jetzt auf jeden Fall die aktive Rolle übernehmen müssen“, so Seikowski. Linda findet das Quatsch. „Wenn er mit der Rolle des Verführers und sie mit der Rolle der Verführten glücklich ist, warum muss man dann etwas über den Zaun brechen?“ Mein eigenes Bettproblem löst diese Erkenntnis leider nicht: Denn dummerweise macht sich der Leistungsdruck auch anderweitig bemerkbar. Dort unten.

Zuviel Stress und Nachdenken sind tödlich für eine Erektion, erklärt mir Kurt Seikowski – und irgendwie finde ich es beruhigend, wie biologisch seine Erklärung ist: Um zu erigieren, muss 25 Mal mehr Blut in den Penis schießen. Schießt es stattdessen in den Kopf, weil ich um meine Performance nachgrübele, fehlt es, wo ich es gerade benötige. So findet man sich schnell in einem fiesen Teufelskreis wieder – weil man beim nächsten Sex erst recht die eigene Ladehemmung fürchtet. Eine verständnisvolle Nachfrage hilft in solchen Momenten übrigens wenig – so nett der Trost auch gemeint ist. „Da machen Frauen leider viel falsch, wollen direkt im Bett darüber reden“, sagt Seikowski. Besser: Man verschiebt das Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt auf neutraleres Terrain.

Wann ist der Mann ein Mann?

Ja, diese besondere Beziehung zwischen einem Mann und dem, was zwischen seinen Beinen baumelt, ist dem anderen Geschlecht nur schwer vermittelbar. Und diese riesige Angst, dass es irgendwann nur noch baumelt. Dass meine Männlichkeit im entscheidenden Moment versagt. Ein Mann ist nur dann ein richtiger Mann, wenn er kann. Diese Vorstellung sitzt tief – selbst wenn der Kopf etwas anderes behaupten mag. Und wie viel Männlichkeit bleibt eigentlich übrig, wenn ich nicht nehme, sondern genommen werde?

Als mein Freund eine stressige Zeit bei der Arbeit hatte, lief im Bett auch weniger. Am Anfang bezog ich das total auf mich und hatte Angst, dass das so bleibt.

Linda

„Sexuelles Versagen ist maximal geeignet, die eigene Männlichkeit in Frage zu stellen“, bestätigt mir Volkmann und schiebt das Warum gleich nach: „Beim Mann ist die eigene Identität viel stärker mit seiner Sexualität und damit mit dem erigierten Penis verknüpft als bei der Frau.“ Anders ausgedrückt: Frau findet es oft gar nicht so schlimm, wenn beim Sex mal was schiefläuft. „Sich dessen bewusst zu werden, kann schon helfen, den Druck herauszunehmen.“ Linda sieht das ein wenig anders: „Wenn er keinen hoch bekommt, hinterfragst du dich und deine Rolle als Frau, weil deine Reize versagt haben. Das ist wie eine richtige Abfuhr“, erinnert sie sich. „Als mein Freund eine stressige Zeit bei der Arbeit hatte, lief im Bett auch weniger. Am Anfang bezog ich das total auf mich und hatte Angst, dass das so bleibt.“

Honigfalle Cybersex

Grundsätzlich sollte man die Performance im Bett nicht überbewerten, sagt Kurt Seikowski. „Jeder hat mal einen Hänger, die Frauen genauso, auch wenn man es nicht sieht.“ Die Dauerständer von Youporn und Xhamster seien auf jeden Fall der falsche Vergleich. „Die Visualisierung durch das Internet setzt viele Männer unnötig unter Druck“, so der Wissenschaftler – und meint damit nicht nur die heutige Jugend, für die Pornoseiten im Netz längst zum ersten Berührungspunkt mit Sexualität geworden sind. Auch Ältere könnten sich schnell im Cyberspace verlieren, wenn der (Sex-)Stress im Real Life zu groß wird. „Das kann anfangs zwar etwas Druck herauslassen, weil keine soziale Interaktion nötig ist, verselbstständigt sich aber schnell.“ Das Problem: „Die Intensität, wie sie beim Masturbieren vor dem Computer oder am Smartphone empfunden wird, ist in der Realität dann nicht mehr zu erreichen.“

Die Visualisierung durch das Internet setzt viele Männer unnötig unter Druck.

Kurt Seikowski

Ich habe verstanden. Will ich ein ausgewogeneres Kräfteverhältnis im Bett, muss ich zuallererst die eigenen Barrieren im Kopf kennen und überwinden. Und dann hilft nur noch eins: über den eigenen Schatten springen, den Mund aufmachen und mit meiner Sexpartnerin über unser beider Vorlieben  reden. Gedankenlesen kann schließlich niemand.

Der Artikel ist 2015 in der Juni-Ausgabe des JS-Magazins erschienen, das sich vornehmlich an junge Soldaten der Bundeswehr richtet.

©

Comments are closed.

Navigate