Nina Madlen Korn ist Märchenerzählerin. Wie ihre Mutter. Wie ihre Tochter. Aber bald wird sie nicht mehr erzählen können. Ein Kurzporträt.
Sie kommt auf die Bühne und setzt sich. Die Zeiger der Uhr sind ihr vorausgeeilt. Der Taxifahrer kam nicht aus Berlin, entschuldigt sie sich und schlägt das Buch auf. Ein altes, mächtiges, prächtiges Buch ist es. Das Buch ihrer Mutter, der großen Märchenerfinderin.
Eine Freundin der Niederschrift war sie nie. Für das gesprochene Wort ist ihr Herz entflammt. Erzählerin von Kindesbeinen an, im Ferienlager, zu Schulzeiten, bis heute geblieben, jetzt, wo die große 80 an die Tür klopft. Ihr Garn kennt keinen Anfang, kennt kein Ende. Begrenzen Buchstaben nicht die Fantasie, sperren sie ins Korsett des bereits Gedachten? Aber heute möchte sie vorlesen. Vorlesen aus dem Buch ihrer Mutter, der Frau, die sie zum Erzählen brachte.
Es geht nicht. Kaum löst sich der erste Satz von ihren Lippen, blicken die Augen auf, weg vom Blatt, hin zu den Menschen. Die Fantasie übernimmt. Dichtet hinzu, lässt weg, springt vor, springt zurück. Ein Kind, ein Richter, zwei Geschäftsleute, zwei Töpfe voll Gold und Oliven. Wir hüpften durch die Geschichte, landen hier, landen dort. Durchschlagen den Knoten des Kausalen. Raum und Zeit werden eins, sind uns eins. Linearität? Zur Hölle damit!
Wie ist die Zeit? Sind wir drüber? Egal. Für eine Geschichte ist noch Platz. Eine kurze noch. Diesmal aber wirklich: Vorlesen. Augen aufs Buch! Sind so schöne Worte. Der Mann, der Schatz, das Waschweib. Und diese böse, böse List. Doch wieder ist der Mund der stärkere, das Garn wird neu gesponnen. Domestizierte Worte sind ihre Sache nicht, sie spricht und lacht und ruft und ihre Augen leuchten wie die Augen eines kleinen Mädchens.
Zum Glück, sagt sie mir später, war es nur ein kleiner Schlaganfall. Könnt‘ ich nicht mehr sprechen, wär ich lieber tot.
Nina Madlen Korn ist Märchenerzählerin. Sie ist regelmäßig in der Tadschikischen Teestube in Berlin zu Gast, wo auch schon ihre Mutter Ilse Korn auftrat. Ilse Korns Buch „Der Falke unter dem Hut“ von 1967 vereint „allerlei Märchen und Geschichten von Spaßvögeln, Schelmen und anderen gewitzten Leuten“ und ist heute nur noch antiquarisch erhältlich. Die obig abgebildete Illustration ist eben diesem Werk entnommen.