The Day The Dictators Died

Eine 14-stöckige Torte. Diktatoren. Eine Explosion. Und danach ist alles anders. Eine utopische Groteske.

Die Explosion erwischte sie alle. Den Pummeligen. Den mit den Haaren. Den Brüllhans. Die äußerlich Zarte. Den Struwwelpeter. Den Bärtigen. Die mit den schlechten Zähnen. Das Milchgesicht.

Dem Jähzornigen gelang es noch, die erste Silbe eines wirklich unflätigen Fluchs auszustoßen, bis die Explosion alle Stimmen übertönte und alle Stimmbänder zerriss.

KRA-WUMM!

Für einen kurzen Moment befand sich das Universum tatsächlich im Gleichgewicht. Für einen kurzen Moment waren Körper und Geist tatsächlich eins: Da flog die Nase des Bärtigen durch den Bauch des Pummeligen. Da bohrte sich der Daumen des Struwwelpeters in den Schenkel des Jähzornigen. Da verhedderte sich der kleine Zeh der äußerlich Zarten in einer Schamhaartolle des Bärtigen. Da steckte der linke Augapfel des Brüllhans im Hinterteil des Milchgesichts fest, während der zweite in der Achselhöhle des Struwwelpeters seine letzte Ruhe fand. Nur vom Gehirn von dem mit den Haaren fehlte jede Spur.

4,5 Sekunden später herrschte wieder Ruhe. 

Die Ermittler, die das Videomaterial später sichteten, kamen schnell zum Schluss, dass die Explosion innerhalb der 14 Stockwerke hohen Waldfrucht-Stracciatella-Pfirsich-Maracuja-Kirsch-Amarena-Tiramisu-Erdbeer-Himbeer-Schoko-Sahne-Torte ihren Anfang genommen hatte, die der mit den Haaren speziell für diesen Anlass hatte backen und servieren lassen. Jetzt vermischten sich Schlagsahnespritzer mit Diktatorenblutspritzern – und was einmal der Bankettsaal des Grand Supreme Classic Superior One gewesen war, sah nun wirklich sehr, sehr unappetitlich aus.

Ein inside job war es also tatsächlich gewesen, wenn man wörtlich nahm, was manche Verschwörungstheoretiker später behaupten sollten: Der Ursprung der Explosion lag im Inneren der Torte, da waren sich die führenden Blutspritzer-Analytiker und Tortenspritzer-Analytiker schnell einig gewesen. Aber das war es dann auch an Erkenntnissen, die die ermittelnden Detektive, Kommissare und Inspekteure ans Tageslicht brachten.

Die Anhänger der gemeinsam ins Aus beförderten Diktatorinnen und Diktatoren hielt das freilich nicht davon ab, sich gegenseitig mit heftigen Schuldzuweisungen zu überziehen. Der mit den Haaren habe sich rächen wollen, weil ihm die mit den schlechten Zähnen beim letzten UNO-Gipfel einen mit Senf gefüllten Berliner serviert haben soll. Der Jähzornige habe während eines Tobsuchtsanfalls die Schwippschwägerin der Mutter der Tochter des Bärtigen beleidigt. Und der Pummelige konnte sowieso niemanden leiden, weil keiner mit ihm spielen wollte.

Natürlich gab es auch anderslautende Vermutungen. Die Tatsache, dass sich nur Diktatorinnen und Diktatoren unter den Opfern der Explosion befanden, und zwar sämtliche Diktatorinnen und Diktatoren dieser Welt, machte die überlebenden demokratischen Staatenlenker natürlich höchst verdächtig. Aber Verdächtigungen bleiben Verdächtigungen, wenn sich keine hieb- und stichfeste Beweise finden lassen. Und hieb- und stichfeste Beweise für die Urheberschaft des sugar overkills wollten sich partout nicht finden lassen.

Ins Licht der Verschwörungstheorien rückte bald schon der Küchenchef des Grand Supreme Classic Superior One, ein lupenreiner Demokrat, der uncharakteristischerweise darauf bestanden hatte, höchstpersönlich für die Zubereitung der GRÖTAZ, der größten Torte aller Zeiten, verantwortlich zu sein.

Anarchisch-linke Gruppierungen ließen es sich dann auch nicht nehmen, den „wahrscheinlich wirksamsten Tortenwurf der Geschichte“ frenetisch zu bejubeln. Die Silhouette des Küchenchefs druckten sie auf ein T-Shirt, das in Massenproduktion ging und den Modeherbst des Jahres einläutete.

Die Verkaufserlöse der T-(für Tortenwurf)-Shirts sollten der Weltrevolution zugute kommen. So der ursprüngliche Plan, der aber zügig in den zahlreichen Gremien und Untergremien und Unteruntergremien zerredet wurde. Man konnte sich einfach nicht darauf einigen, ob jetzt, mit dem Tod aller Diktatorinnen und Diktatoren dieser Erde, besagte Weltrevolution nicht bereits umgesetzt worden sei und man mit dem Geld nicht lieber einen riesigen Kindergeburtstag bei McDonalds feiern sollte.

Die einen sagten ja, die anderen sagten nein. Angesichts des Streits splitterten sich die anarchisch-linken Gruppierungen in so kleine Splittergruppen auf, dass ihre Größe von einem hämischen Kommentarschreiber der schmierblättrigen Regenbogenpresse mit den kläglichen Überresten der Diktatorinnen- und Diktatorenkörper verglichen wurde.

Und so versauerten die T-(für Tortenwurf)-Shirts unversandt im Lager jenes großen Kapitalistenschwein-Online-Versandhändlers, der aus Versehen mit der Abwicklung der Logistik betraut worden war. Das zuständige Mitglied des Aktionskommitees „Tortenheld 2020“ entschuldigte sich mit dem Hinweis, er sei auf der Maus ausgerutscht. Statt des linken Knopfes habe er leider den rechten erwischt.

Natürlich glaubte ihm niemand, aber das war egal. Denn nun herrschte erst einmal Weltfrieden. Die Anhänger der kopf- und gehirn- und brust- und brusthaarlosen Diktatorinnen und Diktatoren waren des stetigen Aufstellens von Verschwörungstheorien und des Fingerzeigens nach hier und da und dort nämlich dermaßen müde geworden, dass sie sich alle erst einmal hinlegen mussten und sehr, sehr lange schliefen.

Die demokratischen Staatenlenker heckten derweil einen genialen Plan aus, um aus dem temporären Weltfrieden einen permananten zu machen. Sie riefen den Küchenchef des Grand Supreme Classic Superior One zu sich, der nach der heftigen Explosion im Bankettsaal arbeitslos geworden war, da nun niemand mehr in dem Hotel übernachten wollte – nicht einmal mehr die Demokraten. Sicher ist sicher, sagten sie.

„Backe jedem noch verbliebenen Anhänger der Diktatorinnen und Diktatoren eine Waldfrucht-Stracciatella-Pfirsich-Maracuja-Kirsch-Amarena-Tiramisu-Erdbeer-Himbeer-Schoko-Sahne-Torte und stelle sie den Schlafenden auf ihren Nachtschrank“, befahlen die demokratischen Denker im zugegeben etwas undemokratischen Tonfall. Sie müsse auch nicht 14 Stockwerke haben, 5 reichten völlig aus.

Der Küchenchef, der nicht nur ein lupenreiner Demokrat, sondern auch ein ausgewachsener Pazifist war, reckte seine eigene fist zum Widerspruch. Er habe nicht und werde auch keinesfalls in Zukunft explosives Bombenmaterial in seinen Torten verbacken. Großes Bäckereiinnungspazifistenehrenwort.

Iwo, beschwichtigten die demokratischen Staatenlenker, energisch darauf hinweisend, nicht nur dem demokratischen, sondern auch dem pazifistische Ideal uneingeschränkt Folge zu leisten. Die einzige Bombe, die sie benötigten, so erklärten sie und lachten sich eins und zwei und drei ins Fäustchen, sei die Kalorienbombe.

Solange sämtliche Anhänger der nun kopf- und gehirn- und brust- und brusthaarlosen Diktatorinnen und Diktatoren tagtäglich eine Waldfrucht-Stracciatella-Pfirsich-Maracuja-Kirsch-Amarena-Tiramisu-Erdbeer-Himbeer-Schoko-Sahne-Torte auf dem Nachtisch vorfänden und sich die Bäuche kugelrund futterten, wären sie viel zu faul und träge, um aufzustehen und selbst den Mantel der Diktatur überzuwerfen.

Und so geschah es.

Es wurde Weltfrieden, und es blieb Weltfrieden, weil der Küchenchef buk und buk und buk, bis an sein Lebensende. Aber weil er eben nicht nur ein lupenreiner Demokrat und ein ausgewachsener Pazifist war, sondern auch schlau, hatte der Küchenchef vor seinem Tod einen Nachfolger ausgebildet, der seinerseits buk und buk und buk, so dass die Produktion der Waldfrucht-Stracciatella-Pfirsich-Maracuja-Kirsch-Amarena-Tiramisu-Erdbeer-Himbeer-Schoko-Sahne-Torten niemals abriss.

THE END

Nachschlag: Jahrhunderte später sollte mithilfe einer unglaublich revolutionären Technologie ans Tageslicht kommen, dass der erste Küchenchef den Kern seiner 14 Stockwerke hohen Torte keinesfalls mit Waldfrucht, Stracciatella, Pfirsich-Maracuja, Kirsch-Amarena, Tiramisu, Erdbeer, Himbeer, Schoko und Sahne gefüllt hatte, sondern, um Geld zu sparen, ausschließlich mit Mehl. In einer spontanen Mehlstaubexplosion hatte dieses Mehl Torte, Diktatorinnen, Diktatoren und Banketsaal in Stücke gerissen und jene schicksalshafte Kette von Ereignissen in Gang gesetzt. Aber diese Zusammenhänge kümmerten längst niemanden mehr.

Und wenn sie nicht an Diabetes gestorben sind, dann leben die Menschen noch heute.

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