Eines Morgens wachte ich auf und fand ein seltsames Foto in meinem Smartphonespeicher. Es war ein Selfie. Nichts besonderes eigentlich, aber: Ich konnte mich beim besten Willen nicht dran erinnern, es geschossen zu haben.
Ein Social-Media-Mystery-Groschenroman
Geschrieben vom 23. Januar 2029 bis 7. August 2019 – (fast) jeden Tag gab es ein neues Kapitel.
Ursprünglich erschienen auf: https://www.instagram.com/traumphon/
Jetzt gesammelt hier lesbar:

Eines Morgens wachte ich auf und fand ein seltsames Foto in meinem Smartphonespeicher. Es war ein Selfie. Nichts besonderes eigentlich, mein Smartphone war voll mit Selfies, aber: Ich konnte mich beim besten Willen nicht dran erinnern, es geschossen zu haben.
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Und noch etwas war seltsam: Als ich in den Hintergrund zoomte, sah ich verschwommen ein altes Poster, das früher an der Wand meines Kinderzimmers gehangen hatte. Dieses Kinderzimmer war allerdings schon vor Jahren von meinem Vater in einen Bastelraum umgewandelt worden.
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Vage Erinnerungsfetzen flogen durch meinen Kopf… Hatte ich heute nacht nicht irgendetwas von meinem alten Zuhause geträumt… Ich rief das Foto noch einmal auf, klickte mich durch zu den Meta-Daten. Das Datum der Bilddatei zeigte 3:43 Uhr. Ich musste das Foto also mitten in der Nacht geschossen haben! Aber… das war vollkommen unmöglich!
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Etwas verwirrt stand ich auf, machte mir einen Kaffee und vergaß das seltsame Foto im Laufe des Tages wieder. Bis ich am nächsten Morgen ein Neues auf meinem Smartphone fand… .
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<Ende Folge 01 – Fortsetzung folgt…>
Wieder hatte das Foto ein Datum, das mitten in der Nacht lag. Und wieder war etwas zu sehen, von dem ich mir sicher war, davon in der Nacht zuvor geträumt zu haben. Diesmal waren es die Klappstühle im Filmraum meines alten Gymnasiums. Mein Gymnasium, das vor drei Jahren einem hochmodernen Neubau gewichen war.
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Heute nacht aber war es in meinem Traum wieder zum Leben erweckt worden. Ein regelrechter Alptraum war das gewesen! Mein alter Mathelehrer hatte mich mit einer Heckenschere quer durch die Gänge meiner Schule gejagt. Im Filmraum hatte ich versucht, mich unter den Stühlen zu verstecken. Aber er hatte instinktiv gespürt, wo ich war, war immer näher und näher gekommen. Statt Augen, Mund und Nase waberte eine schwarze Masse in seinem Gesicht. Ich wusste trotzdem, dass ER es war.
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Und nun hatte ein Foto dieser Szene den Sprung von der Traumwelt ins Hier und Jetzt geschafft. Unmöglich! Sicher wollte mir jemand einen Streich spielen! Meine Mitbewohner, natürlich! Vielleicht hatte ich ja im Schlaf gesprochen und dann hatten die irgendwie…
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Na wartet! Ich beschloss, den Scherzbolden eine Falle zu stellen. Abends vor dem Schlafengehen stellte ich meine Digicam auf Videofunktion, drückte auf Record und versteckte sie auf meinem Regal, so dass sie die ganze Nacht über aufzeichnen konnte, was in meinem Schlafzimmer geschah…
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<Ende Folge 02 – Fortsetzung folgt…>
Am nächsten Morgen wachte ich mit einem siegessicheren Gefühl auf. Ohne mein Smartphone auch nur eines Blickes zu würdigen, stand ich auf, ging direkt zum Regal und holte meine Digicam. Dann setzte ich mich in die Küche und brühte mir einen Kaffee. Schließlich galt es, über sieben Stunden Videomaterial zu sichten.
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Ich drückte auf schnellen Vorlauf, nahm einen ersten Schluck und starrte gebannt auf das kleine Vorschaufenster am Rücken meiner Cam. Und ich sah: nichts. Nun, ganz stimmte das nicht. Manchmal wälzte sich der schlafende Körper, der ich war, nach links, manchmal wälzte er sich nach rechts. Nach einer Stunde hatte ich den Punkt erreicht, der mich beim Aufstehen heute morgen zeigte.
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Hatten meine Mitbewohner die Kamera etwa entdeckt und deshalb von einer Fortsetzung ihres Streichs abgesehen? Ich lief zurück in mein Schlafzimmer, griff zum Handy, öffnete hektisch den Fotoordner – und fand ein neues Foto!
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<Ende Folge 03 – Fortsetzung folgt…>
Waren die Motive auf den mysteriösen Fotos bislang recht einfach zu erkennen gewesen, brauchte ich diesmal eine ganze Weile. Jemand hatte mit meinem Smartphone eine Serviette abfotografiert… aber auf der Serviette stand etwas geschrieben. H.. I.. L.. Mir stockte der Atem: HILFE! Jemand hatte mir über meine eigene Kamera einen Hilferuf geschickt!
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Und darunter, fast unkenntlich, hatte dieser Jemand eine Buchstaben- und Zahlenkolonne gekritzelt. Verwirrt starrte ich eine Weile auf das Handydisplay, bis mir eine Idee kam. Aus den Metadaten las ich die Uhrzeit heraus, an der das Foto in dieser Nacht entstanden war. 4:02 Uhr. Dann lief ich zurück in die Küche und spulte auf meiner Cam direkt zu diesem Zeitindex vor…
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Halt! Was war das? Beim schnellen Vorspulen hatte ich den Moment übersehen, aber… hatte sich da gerade meine Hand bewegt? Ich spulte noch einmal zurück und ließ das Video mit halber Geschwindigkeit abspielen. Tatsächlich! Blitzschnell hatte meine Hand nach rechts gezuckt, das Telefon vom Nachtisch gegriffen und auf irgendeinen Punkt mitten im Raum fokussiert. Dann, für den Bruchteil einer Sekunde war das Videobild überbelichtet gewesen. Der Blitz hatte ausgelöst! Eine Sekunde später lag das Smartphone wieder an seinem angestammten Platz.
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Jetzt bestand kein Zweifel mehr! Niemand anders als ich selbst hatte die Fotos gemacht! Aber wie war das möglich? Und wer hatte mir diesen Hilferuf geschickt?
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<Ende Folge 04 – Fortsetzung folgt…>
Ich beschloss, dem einzigen Hinweis nachzugehen, den ich hatte. Die Zahlenkolonne auf der Serviette musste etwas mit dem Hilferuf zu tun haben. Aber wirklich gut erkennen konnte man sie nicht.
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Noch nicht, dachte ich, verband mein Smartphone mit dem Computer und lud das Foto in mein Bildbearbeitungsprogramm. Ein paar Klicks später konnte ich die Ziffern endlich erkennen. BE-231-AC. Okay, das sagte mir auf Anhieb nichts. .
Auch der nächste Schritt, die unweigerliche Google-Suche, ergab keine Treffer. War es vielleicht ein Passwort, das ich irgendwo eingeben musste? Der Zugangscode zu einem geheimen Versteck? Die Seriennummer einer Paketbestellung? Ich grübelte und grübelte, aber war bis zum Abend nicht weiter gekommen.
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Dann kam mir eine Idee: Wenn ich kurz vor dem Einschlafen immer wieder an diese Zahlenfolge dachte, fast wie beim Schäfchenzählen, wäre die Chance nicht groß, dann auch davon zu träumen? Und vielleicht würde dann das nächste Foto – ich war mir mittlerweile sicher, dass am nächsten Morgen ein neues auf mich warten würde – ja, dann würde das nächste Foto mir vielleicht einen neuen Hinweis liefern…
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<Ende Folge 05 – Fortsetzung folgt…>
BE-231-AC… BE-231-AC… BE-231-AC… Ich weiß nicht, wie oft ich diese Reihe von Zahlen und Buchstaben wiederholte, bevor ich endlich eingeschlafen war… Aber ich weiß noch genau, wie aufgeregt ich am nächsten Morgen zu meinem Smartphone griff, um das nächste Foto zu sehen. Hatte meine Auto-Suggestion funktioniert? Hatte ich mich im Traum der Lösung dieses seltsamen Rätsels genähert?
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Wie groß war meine Enttäuschung, als der Bildschirm des Telefons schwarz blieb. Oh nein! Bei aller Aufregung hatte ich vergessen, den Akku aufzuladen. Das Foto, das in dieser Nacht in meinem Traum entstanden war, war unwiderbringlich verloren. Ich fluchte! Und machte mir ernsthafte Sorgen! War es jetzt vielleicht schon zu spät für den Hilfesuchenden?
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Zumindest hatte ich eins herausgefunden: Die Zustand meines Smartphones in der Realität war wichtig. Kein Saft, keine Bilder! Und wenn es kaputt ging, würde ich wohl überhaupt keine neuen Bilder aus meinen Träumen mehr erhalten. Ich musste also sehr vorsichtig sein. Und würde es heute Abend noch einmal versuchen. Es durfte einfach nicht zu spät sein!
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<Ende Folge 06 – Fortsetzung folgt…>
Diese Nacht träumte ich äußerst unruhig. Immer wieder wachte ich auf, mit unschönen Erinnerungsfetzen von Verfolgungsjagden und einem diffusen Gefühl von Gefahr in meinem Kopf. Aber wovor genau ich geflohen war und was mich so in Angst und Schrecken versetzt hatte, das wusste ich nicht mehr. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich mir dann auch sehr sicher, kein neues Foto auf meinem Smartphone vorzufinden.
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Aber ich irrte mich. Ich hatte im Traum einen Hauseingang fotografiert. Verschwommen nahm ich zwei gläserne Doppeltüren wahr, eingerahmt von zwei Säulen. Na, das war ja eine große Hilfe! In Deutschland musste es Tausende solcher Eingänge geben. Aber wozu gab es das Internet! Wieder verband ich mein Telefon mit meinem Computer, lud das Foto herunter, verstärkte den Kontrast ein wenig und lud es in die Google Bildersuche.
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Et voila! Gleich beim ersten Versuch traf ich ins Schwarze! Meinen im Traum fotografierten Eingang gab es tatsächlich! Und er gehörte zu einer Bibliothek! Die Herzogin-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, so las ich auf Wikipedia, sei einer der ältesten Bibliotheken der Welt, deren Sammlung noch erhalten ist. Der Büchersammler Herzog August hatte sie im 17. Jahrhundert zu einer der größten Bibiotheken ihrer Zeit aufgebaut, das als „achtes Weltwunder“ galt.
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Ehrlich gesagt, ich hatte von dieser Bibliothek noch nie gehört. Aber eins war klar: Ich musste dort hin. Also packte ich Zahnbürste, mein Smartphone und ein paar Wechselsachen ein und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Wenn alles gut ging, war ich noch vor dem Abend in Wolfenbüttel.
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<Ende Folge 07 – Fortsetzung folgt…>
Im Zug las ich alles, was das Internet über die Bibliothek und Herzog August dem Jüngeren hergab. Wie er schon 1611 auf seinem Hof in Hitzacker über 6000 Bücher gesammelt und katalogisiert hatte. Wie August, der einer Nebenlinie der Welfen entstammte, wider Erwarten Herzog von Braunschweig-Lüneburg wurde, weil alle anderen Thronanwärter in den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs gestorben waren. Wie seine Bibliothek schließlich nach Wolfenbüttel umsiedeln musste und zum Zeitpunkt seines Todes unglaubliche 135.000 Titel umfaste. .
Dabei stieß ich auch auf durchaus Skurriles: Offenbar hatte August 1616 unter dem Pseudonym Gustavus Selenus das erste deutschsprachige Schachlehrbuch verfasst. 1624 folgte ein 500-seitiges Werk, schnell zum Standardwerk für Kryptologie und Kryptografie geworden war, der Lehre von der Ver- und Entschlüsselung von Informationen. Zudem interessierte sich August zeitlebens brennend für Geheimlehren und Alchimie und führte regelmäßigen Briefkontakt mit Johann Valentin Andrae, dem vermutlichen Gründer der Rosenkreuzer. .
Ein spannender Zeitgenosse. Aber was hatte der nur mit meinen Träumen zu tun?
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<Ende Folge 08 – Fortsetzung folgt…>
In Wolfenbüttel angekommen suchte ich mir erst einmal eine Bleibe. Schwer war das nicht, gehörte die niedersächsische Stadt mit ihren 50.000 Einwohnern definitiv nicht zu den Top-Reisedestinationen in- oder ausländischer Touristen. Immerhin – der venezianische Schriftsteller und Abenteurer Casanova war einmal hier gewesen. „Ich kann diese acht Tage zu den glücklichsten meines Lebens zählen!“, sollte er später in seinen Memoiren schreiben. Na dann.
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Als ich schließlich in meinem kleinen, spartanisch eingerichteten Hotelzimmer angekommen war, war die Sonne schon längst untergegangen. Heute Nacht noch bei der Bibliothek vorbeizuschauen würde nichts bringen. Stattdessen wollte ich mich morgen direkt nach dem Frühstück auf den Weg machen. Bevor ich das Licht ausknipste, ging ich noch einmal sicher, dass mein Telefon aufgeladen war und in Griffreichweite auf dem Nachtisch lag. Jetzt aber erst einmal schlafen… .
<Ende Folge 09 – Fortsetzung folgt…>
Das Foto am nächsten Morgen zeigte ein Gesicht, das mir irgendwie bekannt vorkam. „Der Löwe schämt sich freilich, wenn er mit dem Fuchse jaget. Des Fuchses, nicht der List.“ schoss es mir durch den Kopf. Das war doch… Nathan der Weise! Genau, und das Gesicht zeigte: Lessing! Und Lessing war, so verriet mir ein schneller Blick ins Netz, von 1770 bis zu seinem Tod 1782 Bibliothekar in der Bibliotheca Augusta gewesen! Faszinierend! Ich musste mich wirklich auf der richtigen Fährte befinden! Nach einem ausgiebigen Frühstück fühlte ich mich gestärkt genug, dieses Mysterium zu lösen. Zwanzig Minuten später stand ich vor dem Eingangstor der Bibliothek – und spürte plötzlich ein seltsames Gefühl von Deja vu. Ich war schon einmal hier gewesen! Da war ich mir ganz sicher! Aber damals war ich… ein plötzlicher Schwindel erfasste mich, bevor ich die Erinnerung fest greifen konnte. Dann wurde alles um mich herum schwarz. Und mein Smartphone fiel mit einem lauten Krachen aus meiner Hand auf den harten Steinboden.
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<Ende Folge 10 – Fortsetzung folgt…>
„Sie sind wieder wach! Na Herrgottseidank!“ Als ich meine Augen wieder aufschlug, blickte ich in das Gesicht einer älteren Dame! „Sie haben mir ja einen ganz schönen Schrecken eingejagt! Ich hab sie bewusstlos vor dem Eingang gefunden. Was ist denn passiert?“ .
Ich rieb mir über die schmerzende Stelle an meiner Stirn. Ja, was war überhaupt passiert? Ich wollte zur Bibliothek und dann… war mir urplötzlich übel geworden… „MEIN HANDY!“ rief ich laut und sprang auf! Und wäre fast wieder umgekippt, so schwindelig war mir. „Jetzt regen Sie sich mal nicht so auf!“ sagte die alte Dame tadelnd und half mir wieder zurück in den Sessel. „Ich habe ihr Telefon ja hier… Es lag neben ihnen auf dem Boden.“ Ich atmete erleichtert auf. .
„Allerdings hat es den Sturz nicht ganz unbeschadet überstanden.“ In meinem Magen zog sich alles zusammen. Wenn ich jetzt wegen meiner Tölpelhaftigkeit… Ich hatte Glück im Unglück. Mein Smartphone ließ sich noch immer anschalten. Allerdings war der Bildschirm vom Sturz so sehr gesplittert, das praktisch nichts mehr zu erkennen war. Ich seufzte.
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„Jetzt machen sie sich mal nicht so einen Kopf“, sagte die ältere Dame. „Mein Sohn hat so einen Laden, der repariert das wieder im Nu. Geben Sie mal her, bis morgen ist das wieder heile! … Aber, was kann ich denn überhaupt für sie tun? Was führt Sie in meine bescheidene Bibliothek?“
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<Ende Folge 11 – Fortsetzung folgt…>
Dass mir jemand über die Kamera meines Handys einen Hilferuf aus meinen eigenen Träumen geschickt hatte, konnte ich der Bibliothekarin natürlich nicht sagen.
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Ähh… ich suche ich nach etwas… also… ähh… sagt ihnen die Kombination BE-231-AC vielleicht etwas?“
„Aber natürlich!“ lachte die alte Dame. „Dafür bin ich ja hier!“ Ich stutzte. „Na, das ist doch ganz sicher die Signatur eines Buches. Und wenn mich nicht alles täuscht, suchen Sie da etwas aus unserem ganz alten Bestand.“
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Die Bibliothekarin überlegte weiter. „BE und ein dreistelliger Zahlencode… mhhhh.. ja, natürlich! Das muss eine Handschrift aus dem Mittelalter sein.“ Eine Handschrift? Aus dem Mittelalter? Diese Geschichte wurde immer absonderlicher.
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„Bleiben Sie mal schön hier, ich suche es Ihnen mal eben heraus. Aber Mitnehmen dürfen Sie die natürlich nicht! Unsere Handschriften sind Präsenzbestand!“
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Und schon war die alte Dame wieder zur Tür heraus. Ich blieb allein zurück und wartete. Was blieb mir auch anders übrig?
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Als die Bibliothekarin zurückkam, war ihr Gesicht ganz bleich.
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„Was ist denn mit ihnen los?“ fragte ich, nun meinerseits besorgt. War mein seltsamer Code etwa doch keine Bibliothekssignatur gewesen? Oder war das, was sich dahinter verbarg, vielleicht gestohlen worden?
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„Nein, nein…,“ stotterte sie und wuchtete ein dickes Buch auf den Tisch. „Ich habe die Handschrift gleich mitgebracht.“
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„Na, das ist doch großartig!“ erwiderte ich, zugegeben etwas erleichtert, dass meine Spur nicht ins Leere gelaufen war.
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„Ja, ja, großartig!“ sagte sie und schlug mit zitternden – und behandschuhten – Händen das mittelalterliche Schriftstück auf. „Hier haben wir den Codex Somniorum Maximilianeus – eine unsere ältesten Schriften.“
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Die Bibliothekarin blätterte weiter und zeigte – noch immer kreidebleich – auf die fleckige Seite.
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Und dann verstand ich plötzlich. Auf das mittelalterlichen Schriftstück hatte der Verfasser eben nicht nur Text, sondern auch das Gesicht eines jungen Mannes gezeichnet. Und dieses Bild – das war eindeutig ich!
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<Ende Folge 13 – Fortsetzung folgt…>
„Das bin ja ich“, sagte ich. „Das sind ja Sie“, sagte die Bibliothekarin. „Das kann nicht sein“, sagte ich. „Das kann nicht sein“, sagte die Bibliothekarin.
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Aber es war so. Der Mann aus der Zeichnung hatte meine Gesichtszüge, meine Frisur, meine Augenfarbe. Selbst bei nahen Verwandten wäre eine solche Ähnlichkeit eine absolute Ausnahme.
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„Vielleicht ein entfernter Verwandter von Ihnen?“ fragte die Bibliothekarin und schien meine Gedanken zu erraten.
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„Ist das Dokument vielleicht eine Fälschung?“
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„Nein, der Codex Somniorum Maximilianeus ist echt, wir haben ihn erst kürzlich mit neusten wissenschaftlichen Methoden datieren lassen.“
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„Was heißt das überhaupt? Codex Somniorum Maximilianeus? Mein Latein ist etwas.. ähhh eingerostet.“
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Es war noch nie da gewesen.
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„Nun,“ sagte die Bibliothekarin und schien sich langsam wieder zu fangen. Maximilianeus heißt, dass sein Verfasser Maximilian genannt wurde. Und Somnium heißt Traum. Der Codex ist eine der ältesten mittelalterlichen Schriften zum Thema Traumdeutung in unserem Bestand.“
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Traumdeutung. Das ergab tatsächlich irgendwie Sinn. Ich war auf dem richtigen Weg. Auch wenn ich noch keinen blassen Schimmer hatte, wie die einzelnen Puzzleteile zusammen passten.
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„Können Sie mir helfen, den Text auf der Seite zu übersetzen? Und können Sie Ihrem Sohn sagen, dass er sich mit der Reparatur meines Telefons beeilt? Ich fürchte, ich brauche es ganz dringend wieder funktionstüchtig.“
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„Ich setze mich gleich heran an die Übersetzung. Jetzt haben Sie auch meine Neugier geweckt. Kommen Sie morgen früh um 11 zurück, dann kann ich Ihnen mehr sagen.“
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<Ende Folge 14 – Fortsetzung folgt…>
In der Nacht schlief ich wieder äußerst unruhig. Aber ohne ein Foto, das am nächsten Tag meine dahinschmelzenden Erinnerung auffrischen konnte, blieben meine Traumerlebnisse im Dunkel.
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Im Hotel schmierte ich mir noch ein Brot und goss mir eine Tasse Filterkaffee zum Mitnehmen ein. Die Uhr zeigte 9:20 Uhr. Ich würde viel zu früh an der Bibliothek ankommen, konnte meine Neugier aber nicht mehr zügeln.
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Ich kam trotzdem zu spät. Die Tür zum Büro der Bibliothekarin stand sperrangelweit offen. Und aus dem Papierkorb neben ihrem Schreibtisch schlugen Flammen! Mein Gott! Der Codex!
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Ich zögerte nicht lange und goss meinen Restkaffee auf das noch schwelende Buch, das jemand unzeremoniell in den Eimer geworfen und angezündet hatte. Dann kippte ich den Eimer aus und trampelte die letzte Glut aus.
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In diesem Moment kam die Bibliothekarin herein, in der Hand ein Blatt Papier. „Da sind sie ja schon, ich habe ein paar interessante Dinge herausge… Heilige Mutter Gottes! Was machen Sie denn da?“
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Ihr schockierter Blick richtete sich auf den halb verkohlten mittelalterlichen Codex auf dem Boden. Das einst so prachtvolle Werk sah erbärmlich aus. Ihr Gesicht wurde wieder aschfahl. Und dann knallrot.
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„Sie Vandale! Sie Wüstling! Wie konnten sie nur…!“
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„Das war schon so“, versuchte ich eine Erklärung. „Ich habe nur versucht…“
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„Bleiben Sie bloß stehen! Ich rufe die Polizei!“
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Und in diesem Moment traf ich eine Entscheidung, von der es kein zurück mehr geben sollte. Ich stürzte auf die alte Dame zu, entriss ihr den Zettel und rannte aus dem Gebäude.
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<Ende Folge 15 – Fortsetzung folgt…>
Ich rannte und rannte und rannte, bis ich mir sicher war, dass mir niemand gefolgt war. Doch gerade, als ich völlig außer Atem auf einem Spielplatz zum Stehen kam, schoss es mir siedendheiß durch den Kopf: mein Smartphone!
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Verdammt! Wenn die Bibliothekarin es schon morgens von ihrem Sohn abgeholt und mitgenommen hatte, würde ich das nach dieser überstürzten Aktion niemals wiederbekommen. Und noch schlimmer: Mit meinem Smartphone würde die Polizei ganz einfach meine Identität herausfinden. Ob man für „Verbrennen eines mittelalterlichen Dokuments“ wohl in den Knast kommt?
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Erst einmal nachdenken. Welcher Name stand nochmal an der Tür der Direktorin? Ich versuchte mich zu erinnern… Irgendetwas mit S… Sch… Schiller! Ja, genau! Und dann müsste ihr Sohn folgerichtig auch Schiller heißen!
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Ich rannte die Straßen entlang, bis ich ein altes Internet-Café fand. Dort bezahlte ich für eine halbe Stunde, setzte mich an Google und begann meine Suche: „Handy + Reparatur + Wolfenbüttel + Schiller“ Keine Treffer. Ich versuchte noch ein paar mehr Wortkombinationen, blieb aber erfolglos. Mist!
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Zerknirscht bezahlte ich an der Kasse, als mein Blick plötzlich auf das Schild der Verkäuferin fiel. Schiller! Konnte das ein Zufall sein?
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<Ende Folge 16 – Fortsetzung folgt… Alle Folgen auf @traumphon >
„Entschuldigen Sie“, fragte ich die Frau. „Haben Sie vielleicht einen Bruder, der Smartphones repariert?“
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Anstatt mir zu antworten, drehte sie sich um und schrie laut in den Hinterraum. „Leeeeeeeeeoooooo, Kundschaft!“ Mit einem Schulterzucken blickte sie mich an und wandte sich dem Telefon zu, das gerade geklingelt hatte.
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„Komme ja schon,“ rief eine männliche Stimme. Und kam tatsächlich. „Was wünschen, der Herr?“ fragte Leo spöttisch, aber nicht uncharmant.
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„Ähhh, ihre Mutter hat Ihnen gestern mein Smartphone zur Reparatur mitgebracht…“
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„Ach ja,“ lachte Leo. „Der ‚mysteriöse Unfallmann aus der Bibliothek‘.“ Man konnte Anführungszeichen tatsächlich hören. „Das ‚Gesicht der Vergangenheit'“ Leo lachte. Im Gegensatz zu seiner Mutter schien er dem ganzen keine große Bedeutung beizumessen.
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Gut für mich! Leo gab mir mein repariertes Handy zurück, und ich wollte ihm gerade einen Zwanziger auf meinem Portemonnaie fischen, als die Stimme seine Schwester plötzlich laut durch den Laden hallte.
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„Halt den Typen fest, Leo!“ rief sie und: „Der Arsch ist bei Mutter eingebrochen und hat Feuer gelegt!“
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Leo stutzte einen Moment und wollte gerade über den Tresen springen. Aber da war ich schon zur Eingangstür hinausgestürmt und um die nächste Ecke gebogen. Und rannte und rannte und rannte.
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<Ende Folge 17 – Fortsetzung folgt…>
Weil ich Angst hatte, mich in irgendein Innenstadt-Café zu setzen und dort doch noch der Bibliothekarin oder ihrem Sohn zu begegnen, kehrte ich auf direktem Weg in mein Hotelzimmer zurück.
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Zitternd verband ich mein ausgeschaltetes Smartphone mit der Steckdose und schaltete es ein. Tatsächlich! Der Bildschirm funktionierte wieder! Und die Traumfotos waren auch noch alle da! Aber würde das reparierte Telefon mir auch weiterhin Fotos aus meinen Träumen schicken?
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Es war eine Frage, die ich auf später verschieben musste. Noch war es viel zu hell und ich viel zu aufgeregt, als dass an Schlaf auch nur zu denken wäre.
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Aber ich hatte ja noch den Zettel mit der Übersetzung aus dem Codex in der Tasche, den ich der Bibliothekarin aus der Hand gerissen hatte. Ich entfaltete das Blatt Papier und versuchte mich daran, die krakelige Altdamenhandschrift zu entschlüsseln.
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„… habe ich nach dem Genuss des Trankes von der Alten Dinge gesehen, wie aus den allerkühnsten Träumen nicht vorstellbar. Ein Kasten, in dem kleine Menschen ihrer Tage Werk nachgehen. Ein eiserner Vogel, in dessen Bauche Menschen wie in einer Kutsche durch die Lüfte schweben. Ich lief wie im Fieber durch Straßen, die von riesigen Häusern, burgengleich, gesäumt, waren und durch die Kutschen ohne jedes Pferdegespann rasten. Und nie werde ich das Gesicht dieses jungen Mannes vergessen, der mir plötzlich in den Weg schritt, die Haare wirr, das Gesicht rot und schwitzend als sei er auf der Flucht vor dem Leibhaftigen.
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‚Maximilianus, du musst aufschreiben, was du hier gesehen hast‘, keuchte er. ‚Der Kreis darf nicht durchbrochen werden!‘ Dann nahm er mich bei den Schultern, ganz feste und schüttelte mich: ‚Er muss zur Wiener Berggasse 19! Merke es dir! Wiener Berggasse 19!!! Sonst sind wir alle verloren!'“
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<Ende Folge 18 – Fortsetzung folgt.>
Ich schaute vom Zettel hoch – und musste erst einmal laut lachen.
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„Okay, Doc Brown, komm raus!“ Ich knüllte das Papier zusammen und warf es auf das Bett. „Gute Inszenierung, echt, aber come on! Jetzt habt ihr’s echt übertrieben!“
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Ich schlich mich zum Wandschrank und riss die Tür auf – er war leer!
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„‚Marty, Marty, du musst mit mir zurückkommen!‘ Echt SEHR, SEHR lustig!“ rief ich spöttisch in den leeren Raum hinein, dem unsichtbaren Publikum zu, das sich diesen Prank jetzt wohl gerade live am Rechner über Youtube gestreamt ansah – und zeigte ihnen den Finger. Dann stürmte ich auf die Badezimmertür zu und öffnete sie ruckartig. „Hab ich eu….!“ Es war niemand darin.
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Auch meine Suche nach versteckten kleinen Kameras und Mikrofonen blieb erfolglos. „Leute, echt, löst das Ding auf, es wird langsam langweilig!“ Keine Reaktion. Meine Stimme wurde etwas unsicherer. „Äh, Leute…“
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Ich lugte aus dem Fenster – und für einen kurzen Moment erwartete ich tatsächlich, dort einen fliegenden Delorean oder mich selbst, um 30 Jahre gealtert, stehen zu sehen. Stattdessen stand dort ein Polizeiwagen – mit angeschaltetem Blaulicht.
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<Ende Folge 19>
Egal. Ich musste raus hier. Aus dem Hotel und aus der Stadt. Ein Ziel hatte ich ja schon: Wien. Genauer gesagt: die Wiener Berggasse 19. Durch die Eingangstür konnte ich aber auf keinen Fall fliehen, da standen die Cops.
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Und nach Hause zurückzufahren und so zu tun, als wäre nichts passiert, ging auch nicht mehr. An der Rezeption hatte ich ja meine Heimadresse angeben müssen. Außerdem musste ich damit rechnen, dass die Leute, die den Codex verbrannt hatten, nun auch hinter mir her waren.
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Ich überlegte, was die Leute in Filmen immer taten, wenn sie sich in so einer Situation befanden. Mein Blick fiel auf die Bettdecke. Vergiss es, scholt ich mich. Bis ich dieses Teil so verknotet hatte, dass daraus ein belastbares Stück zum Abseilen aus dem Fenster geworden war, hätten die beiden Bullen das ganze Hotel schon drei Mal durchsucht.
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Aber hatte nicht jedes Hotel einen „Dienstboteneingang“, damit die Gäste nicht sahen, wenn die angeblich so erlesenen Zutaten doch nur vom Großmarkt angekarrt wurden? Ich griff meinen Koffer, den ich nie richtig ausgepackt hatte, stopfte Handy, Ladegerät und das übersetzte Dokument in meine Jackentasche und ging – bewusst langsam und unauffällig – aus meinem Zimmer.
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An der Rezeption hörte ich einen Polizisten mit dem Hotelbesitzer reden. „Also, eigentlich geben wir ja keine Auskünfte über unsere Gäste, aber in dem Fall..“
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Ich schlich durch den Gang zur Küche, grüßte den verdutzen Koch und seine Gehilfen, die gerade die Spezialität des Hauses – Speckknödel an Jägermeister-Jägersauce – zubereiteten, und trat durch den Hintereingang des Hotels ins Freie.
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<Ende Folge 20 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Endlich hatte ich einmal Glück. Der Regionalzug nach Braunschweig fuhr wenige Minuten, nachdem ich am Bahnsteig angekommen war, ab. Von da aus ging es mit dem ICE weiter bis Hanau und dann direkt nach Wien. Zehn Stunden dauerte die Fahrt! Ich würde erst gegen Mitternacht ankommen!
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Zuvor hatte ich aber noch mein ganzes Konto an einem Geldautomaten in der Wolfenbütteler Innenstadt leergeräumt. Wer weiß, wie lange ich noch Geld ziehen konnte… Meine Karten wollte ich auf keinen Fall mehr benutzen und so die Polizei auf meine Fährte locken. Auch das hatte ich aus Serien wie „24“ gelernt. Aber würde sich die Polizei die Mühle machen bei einer so vergleichsweise geringen Straftat? Durfte sie es überhaupt? Und war die Polizei wirklich die größte Sorge, die ich zu fürchten hatte?
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Langsam kroch die Paranoia in meine Knochen und ließ mich nicht mehr los. Der Typ da auf dem Platz neben mir… Las er wirklich seine Zeitung? Oder hatte er mich heimlich beobachtet? Und die Kontrolleurin… Hatte sie nicht verdächtig lange auf meinen Personalausweis gestarrt?
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Ich ging ins Bordbistro und bestellte mir zur Beruhigung einen Kamillentee und ein Weißbier. Dann setzte ich mich hin und verband mein Telefon mit dem zugeigenen WLAN, das ausnahmsweise funktionierte. (WIFIonICE. Ich musste da immer an Eiskunstlauf denken…) Nach einem großen Schluck Bier tippte ich „Wiener Berggasse 19“ in den Google-Suchschlitz – und verschluckte mich fast an meinem Getränk.
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<Ende Folge 21 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Sigmund Freud! Ausgerechnet! In der Wiener Berggasse 19 hatte sich die Wohnung und Praxis des berühmten Psychoanalytikers befunden, bevor er 1938 nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland nach England emigriert war. Und heute befand sich an eben dieser Stelle das Sigmund-Freud-Museum.
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Na großartig, dachte ich. Sobald eine Sache irgendwie mit Träumen zu tun hat, landen wir am Ende immer bei Freud. Dabei hatte ich doch – soweit ich mich erinnerte – gar nicht von Baumstammwerfen, Bananensplit oder anderen offensichtlichen Phallussymbolen geträumt.
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Sei’s drum – bis ich in Wien angekommen war, hatte ich ordentlich Zeit übrig, um mich auf meinen Besuch im Museum vorzubereiten. Denn außer den üblichen Klischees wusste ich ehrlich gesagt nur wenig über Freuds Arbeit.
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Mein Glück, dass Freuds Standardwerk über das Träumen, „Die Traumdeutung“, bereits 1900 erschienen und damit gemeinfrei war. Ein Klick auf’s Projekt Gutenberg – und schon steckte ich mittendrin in der Lektüre.
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„Das naive Urteil des Erwachten nimmt an, daß der Traum – wenn er schon nicht aus einer anderen Welt stammt – doch den Schläfer in eine andere Welt entrückt hatte.“ Bis genau zu diesem Satz aus dem ersten Kapitel kam ich, dann fielen mir die Augen zu. An Ironie hat es meinem Unterbewusstsein noch nie gemangelt.
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<Ende Folge 22 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Ich rannte. Hinter mir das Geheul von Wölfen. Sie kamen näher. Ich konnte ihren fauligen Atem in meinem Nacken spüren. „Gib es zzzzuück“, hissten sie mit der Stimme der Bibliothekarin. „Gib Smeagol seinen Schatzzzzzzzz zurück.“ Vor mir stand eine Dampflok. Sie fuhr los… Sch-sch-sch-sch… Ich rannte hinterher, wollte hinten auf die kleine Treppe vom letzten Waggon springen, wie es die Leute in den Westernfilmen immer taten.
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Aber ich war zu langsam. Meine Füße schmerzten. Ich wollte schon aufgeben, mich den Wölfen stellen, als plötzlich die Tür des hinteren Wagons aufgeschlagen wurde und eine Gestalt mit Fedora auf dem Kopf und Peitsche in der Hand im Türrahmen erschien. Das war doch nicht etwa… „Los! Greif die Peitsche, ich zieh dich rüber“ Ich nahm meine letzten Kräfte für einen letzten Sprint zusammen, griff nach der Peitsche, rannte, ein Wolf hatte zu mir aufgeschlossen, biss mir ins Bein, ich schrie, fiel fast hin, aber dann hatte mich Indiana Jones doch noch an Bord des rettenden Zuges gezogen. Er grinste mich an und sagte:
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„Aufwachen! Hallo! Aufwachen!“ Die Stimme des Zugschaffners riss mich aus meinem Traum. „Sie wollten doch nach Wien, oder? Wir sind gleich da!“
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„Äh ja, danke schön!“ entgegnete ich noch völlig verschlafen.
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„Ja sagen Sie mal, was haben Sie denn an Ihrem Fuß gemacht? Sie bluten mir ja den ganzen Zug voll.“
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<Ende Folge 23 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Mein Fuß? Jetzt bemerkte ich erst, dass mein linkes Hosenbein zerrissen war und mein Fuß schmerzte. Blut tropfte aus einer Wunde am Fußknöchel auf den Boden. Es war eine Beißwunde.
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Das war doch völlig… Nun, offenbar war nichts mehr unmöglich!
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„Ich muss wohl irgendwo hängengeblieben sein, entschuldigen Sie!“ wimmelte ich den Schaffner ab. Er fragte nicht mehr weiter und ging.
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In Wien angekommen stieg ich aus dem Zug, setzte mich in ein Café und bestellte mir eine Melange mit Wurstsemmel. Diesmal waren mir Erinnerungsfetzen meines Traums geblieben. Die Flucht, die Wölfe, die Gollum-hafte Stimme, der Zug. Und Indiana Jones als meine Rettung in letzter Sekunde. Da hatte mein Unterbewusstsein ja ein lustiges Popkultur-Potpourri zusammengemixt!
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Kam es mir nur so vor, oder wurden meine Träume von Mal zu Mal gefährlicher? Was wäre wohl passiert, wenn mich die Wölfe erwischt hätten? Wäre ich nie wieder aufgewacht? Hätte der Schaffner meinen zerfleischten Körper im Sitz gefunden? Oder wäre ich ganz einfach schweißgebadet aufgeschreckt wie nach einem stinknormalen Alptraum?
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Ich schaute im Speicher meines Smartphones nach einem neuen Foto… Tatsächlich – da war eins. Mein ‚Traumphon‘, wie ich es mittlerweile innerlich getauft hatte, funktionierte also noch. Aber diesmal war das Motiv zu verschwommen. Ich konnte wirklich nichts erkennen.
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Blieb nur noch eins. Ich ließ mir von Googlemaps zeigen, wie ich am schnellsten das Freud-Museum erreichen würde und machte mich auf den Weg. Mein linker Fuß schmerzte immer noch.
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<Ende Folge 24 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Guten Tag!“ sagte ich zu der Dame am Eingang und hoffte auf eine Reaktion. So etwas wie: „Da sind sie ja, wir warten schon seit 80 Jahren auf sie.“
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Sie sagte: „12 Euro, bitte!“ und schob mir gelangweilt eine Eintrittskarte hin. Ich sagte ihr meinen Namen. Sie sagte: „Ja, und?“ Ich gab auf. An dieser Stelle kam ich nicht weiter.
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Ich ging hinein. Es war proppenvoll. „Ich hätte mich ja soooo gerne auf seine berühmte Couch gelegt“, hörte ich die Stinme eines offensichtlichen Freud-Fans. „Aber die ist ja gar nicht hier, sondern im Freud Museum in London.“ „Ja, eine Schande! Wären die Nazis nicht gewesen…“, antwortete sein Begleiter, als wäre die Abwesenheit der Couch das schlimmste Ergebnis der nationalsozialistischen Herrschaft gewesen.
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Natürlich fehlte nicht nur Freuds Couch, sondern seine ganze Praxis und ihr Inventar, das Freud freilich auf seiner Flucht nach England mitgenommen hatte. Was ironischerweise zu besichtigen war, war das Wartezimmer zur Praxis. „Wusstest du, dass hier Europas größte Studienbibliothek zur Psychoanalyse untergebracht ist,“ dozierte mein Freud-Freund weiter. „Mit über 35.000 Bänden!“ Er liebte es offenbar, sein Wissen preiszugeben.
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Ich lief auf und ab, stundenlang, aber fand nirgendwo einen Hinweis, der mir weiterhalf. Ernsthaft nachschauen konnte ich aber auch nicht, dafür war es zu voll. In meinem Kopf schmiedete ich einen Plan.
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Als sich die Öffnungszeit ihrem Ende näherte, schloss ich mich auf dem Klo ein und wartete ab, bis es dunkel war und alle Leute Freuds alte Wohnung verlassen hatten. Ganz still war es, als ich mich wieder aus dem Klo herausschlich… und mich unglaublich erschrak, als mich plötzlich eine Stimme aus dem Dunkel ansprach: „Da sind sie ja, wir warten schon seit 80 Jahren auf sie.“
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<Ende Folge 25 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Aus dem Dunkel trat ein älterer Herr mit schütterem Haar und kicherte. „Verzeihen Sie den dramatischen Auftritt. Ich habe Sie schon erkannt, als Sie unser Museum betreten haben, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen.“
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Ich atmete tief aus. „Woher bitteschön kennen Sie mich? Und warum wussten Sie, dass ich hierhin kommen würde?“ fragte ich skeptisch. Dann kam mir ein beunruhigender Gedanken. „Waren Sie das? Haben SIE den Codex in Wolfenbüttel verbrannt?“
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Der ältere Herr schien ehrlich verunsichert. „Welcher Codex? Und was meinen Sie mit Wolfenbüttel?“
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Ich schwieg skeptisch. Noch wollte ich dem Unbekannten nicht zu viel verraten.
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„Also – mein Name ist Benjamin Sachs“, sagte der Mann. „Ich bin ein… unehelicher Sohn von Hanns Sachs.“ Er machte eine dramatische Pause. Ich schaute ihn fragend an.
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„Äh… Hanns Sachs, der berühmte Psychoanalytiker und Schüler Freuds…?“
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„Ach ja“, sagte ich, obwohl ich nicht wusste, von wem er da sprach. „Aber jetzt sagen Sie mir doch endlich: Woher wussten Sie, dass ich heute hier aufkreuzen würde?“
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Der Mann räusperte sich: „Nun, Herr Freud hat es meinem Vater in einem Brief geschrieben.“
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Ich traute meinen Ohren nicht. „Sigmund Freud hat IHREM Vater geschrieben, dass ICH heute hier im Museum auftauche.“
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„Er hat sie sogar gezeichnet“, sagte Benjamin Sachs, holte einen Bogen Briefpapier aus seiner Aktentasche hervor und entfaltete ihn.
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Das Bild war eindeutig ich. Und noch etwas fiel mir auf. Es war beinahe exakt so gezeichnet wie mein Antlitz im Codex Somniorum Maximilianeus aus Wolfenbüttel.
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<Ende Folge 26 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Faszinierend, wirklich faszinierend!“ Herr Sachs hatte die rote Absperrkordel beiseite geschoben und auf dem Originalsofa in Freuds altem Wartezimmer Platz genommen. Um Museumsregeln schien er nicht bemüht, ganz im Gegenteil: Der alte Mann bewegte sich, als befinde er sich hier Zuhause.
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Innerhalb der letzten Stunde hatte ich ihm alles erklärt, was mir in den letzten Tagen widerfahren war – ich musste einfach jemanden ins Vertrauen ziehen, sonst würde ich wahnsinnig werden. Und dieser Mann schien Dingen, die auf den ersten Blick unerklärbar waren, zumindest nicht unaufgeschlossen.
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Also erzählte ich: von meinem Handy, das mir plötzlich Fotos und einen Hilferuf aus der Traumwelt geschickt hatte, von meinen Recherchen in Wolfenbüttel, von dem verbrannten mittelalterlichen Codex, der Botschaft aus der Vergangenheit, von meiner Flucht vor den Behörden und von dem seltsamen Alptraum, an dessen Ende ein verletzter Knöchel stand.
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„Das klingt ja fast wie „Nightmare On Elm Street“. Haben Sie etwa Freddy Krueger die Freundin weggeschnappt?“ Der Alte kicherte. „Verzeihen Sie, das ist wirklich ein ungewöhnliches Phänomen. Sie kennen es vielleicht, wenn Sie im Traum fallen und ihr Körper beim Aufwachen noch immer ‚denkt‘, er befände sich im freien Fall, obwohl Sie sicher im Bett liegen.“
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Ich nickte.
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Aber dass ein Ereignis aus der Traumwelt so reale Auswirkungen in der reale Welt hinterlässt…“ Herr Sachs beugte sich zu meinem Knie hinunter und inspizierte die Wunde. „Ganz eindeutig – das sind die Spuren eines Wolfsgebisses! … Warten Sie bitte!“ Mit diesen Worten verschwand er, nur um Minuten später mit einem Verbandskasten zurückzukommen und mir die Wunde zu verbinden. Ich gähnte.
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„Ich glaube, Sie sollten für’s Erste wach bleiben, bis wir uns einen Reim auf die Sache machen können. Hier – erst einmal sollten diese reichen.“ Er reichte mir eine Handvoll Koffeinpastillen. „Hochkonzentriert“, sagte er. „Und wenn das nicht mehr hilft…“ – Er machte eine schniefenden Bewegung und fuhr sich mit der flachen Hand unter der Nase her. Ich verstand.
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<Ende Folge 27>
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Lieber Hanns,
wie ergeht es dir in der Ferne, die uns geistig doch so viel näher steht als das, was sich gerade verbrecherisch Heimat nennt? Wahrscheinlich hattest du recht, diesem Moloch an Unrecht so schnell wie möglich entkommen zu wollen – und auch mit anderen Dingen, über die wir manchmal in leidlichen Zwist geraten sind.
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Aber es sind weder meine Altersmilde oder meine zunehmende Krankheit, die diesen versöhnlichen Zeilen die Hand lenkt. Ich muss dich in Kenntnis setzen über einen absonderlichen Besuch, den ich vor ein paar Tagen in meiner Praxis bekam. Und dir einen Auftrag erteilen, der geradezu wahnwitzig zu sein scheint.
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Ein junger Mann war ohne jeden Termin in meine Praxis gestürmt und ließ sich nicht mehr abwimmeln. Gerade wollte ich ihn hinauswerfen lassen, als er eine seltsame Sache erwähnte. „Ich bin im Traum eine Treppe heruntergefallen, aber als ich aufwachte, hatte ich überall blaue Flecken am Körper.“ Er riss sein Hemd hoch und präsentierte mir seinen geschundenen Körper.
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Ich zweifelte natürlich, es hatten Menschen sich schon ganz andere Tricksereien ausgedacht, um einen schnellen Termin bei mir zu ergaunern. Aber irgendwas an seiner Beharrlichkeit ließ mich ihm weiter Gehör schenken, und so ließ ich ihn abends wiederkommen und auf meiner Couch einschlafen. Ich dagegen blieb wach und wollte Wache halten und beobachten.
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<Ende Folge 28 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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Zuerst schlummerte mein Besuch ganz ruhig und mir wären beinahe schon selbst die Augen zugefallen, als sein ganzer Körper plötzlich zu zucken begann und sich heftiger Schweiß auf seiner Stirn zeigte. Unverständliches Gemurmel drang aus seinem Mund, dann ein lauter Schrei und er schreckte hoch wie aus dem schlimmsten aller Nachtmahre.
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„Mein Fuß, mein Fuß!“ schrie er. Mit panischen Augen blickte er mich an. Die Erde habe sich feurig unter ihm aufgetan und ihn gerade zu verschlingen begonnen, berichtete er mit Grauen in der Stimme. In diesem Moment höchster Not hatte ihn – wie es üblich ist – sein Geist aus der Traumwelt zurück ins Hier und Jetzt katapultiert. .
Aber Hanns, seine Füße, du musst mir glauben,… Als ich mir seine Füße ansah, waren sie übersät von schlimmen Brandblasen.
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Nachdem ich seine Wunden versorgt hatte, fragte ich genauer nach, was ihm im Traum widerfahren sei. Ich musste mich regelrecht zusammenreißen, meine Neugier zu bremsen. Wenn sich dieses Ereignis reproduzieren ließ, würde das alle unsere Annahmen über das Verhältnis von Traum- und Wachzustand, von physischer und psychischer Welt, auf den Kopf stellen!
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Aber du weißt ja, wie widerspenstig Träume sind. Ohne adäquates Training rinnen sie uns durch die Finger wie feiner Sand.
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Wir schmiedeten also einen Plan. Ich wollte meinem Gast alle Techniken lehren, die ich kannte, um Träume während des Träumens bewusst zu beeinflussen und sich im Wachzustand daran zu erinnern. Und so wollten wir auch ermitteln, ob es wohl möglich war, über den menschlichen Körper, seine Physis, Botschaften aus der Traumwelt ins Hier und Jetzt zu überbringen.
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<Ende Folge 29 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Der erste Abend, lieber Hanns, war eine Enttäuschung. Mein Patient schlief die Nacht durch – ohne ein Anzeichen von Anspannung oder körperlicher Versehrtheit. Als er am Morgen erwachte, konnte er sich an keinen besonderen Traum erinnern. Die folgenden beiden Nächte verliefen ähnlich.
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Wahrscheinlich war es meine Schuld: Irgendwie musste ich seinen getriebenen Geist durch meine mentalen Techniken und meine schiere Anwesenheit beruhigt haben. Unter normalen Umständen wäre ein solcher Therapieerfolg Grund zur Freude gewesen. Trotzdem legte sich eine gewisse Ungeduld und Enttäuschung in mein Gebahren, das meinem Patienten nicht verborgen blieb. Und dann, in der vierten Nacht, sollten wir etwas wahrlich Unglaubliches erleben. Ich werde versuchen, dir das Ereignis hier so genau wie möglich wiederzugeben.
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Es war schon kurz vor Sonnenaufgang, da schüttelte und rüttelte sich mein Patient wieder unruhig. Seine Lippen öffneten sich, er murmelte etwas, versuchte die Gedanken und Gefühle, die er im Traum erlebte, laut zu formulieren, wie ich es mit ihm trainiert hatte. „Ein Schloss… ein Schloss…“ murmelte er.
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Ich hielt seine Hand, beugte mich über ihn, mein Ohr ganz dicht an seinem Mund, so dass ich auch den leisesten Hauch seiner Stimme vernehmen konnte.
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„Sie gibt mir zu trinken…“
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„Wer“, fragte ich ihn, aber seine Gedanken waren schon weiter gewandert.
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„Da ist ein Mann…“
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„Wie sieht er aus?“ fragte ich, meine Ungeduld kaum im Zaume haltend.
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„Verwirrt. Ängstlich… Seine Haare…“
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„Weiter, weiter!“
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„Sie kommen! Sie kommen!“
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Er schüttelte sich und schrie fast. Ich streichelte seine schweißgebadete Hand, in Sorge, er würde zu früh erwachen. „Wer kommt?“
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Seine Augen öffneten sich und flatterten.
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„Was soll ich damit?“ sprach er wie zu einer unsichtbaren Person im Raum. „Ich verstehe nicht…“
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Ich schrieb hektisch jedes Wort in meinem Notizheft mit.
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„Wie zu früh? Was meinst du mit zu früh? Wann … Nein, geh weg damit! Geh weg!“
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Was hat er dir gegeben?“ flüsterte ich in sein Ohr. „Wovor hat er Angst?“
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„Feuer! Nicht das Feuer! Neiiiiiin!“
„Feuer! Nicht das Feuer! Neiiiiiin!“
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Und da sah ich etwas Unglaubliches. Wie aus dem Nichts erschienen Brandblasen auf seiner Brust und breiteten sich rasch aus. Ich hielt meinen Patienten mit beiden Armen fixiert, auf dass er sich nicht selbst verletzen konnte und sah schließlich keine andere Möglichkeit mehr, als ihn mit zwei beherzten Schlägen ins Gesicht ins Hier und Jetzt zurück zu holen.
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Er wimmerte, und ich nahm ihn in meine Arme und strich ihm durch das Haar wie es eine Mutter für ihr verängstigtes Kind tun würde. „Sch… sch… alles ist gut. Alles ist gut.“
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Und dann sah ich, dass die Brandblasen nicht zufällig verteilt waren, sondern ein Muster bildeten. Nicht nur ein Muster, sondern eine blutige Zahlenreihe: 12 – 09 – 2018.
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<Ende Folge 30 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Der 12. September 2018?“ entfuhr es mir. „Aber das war ja gestern!“
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Benjamin Sachs nickte und bedeutete mir, weiter zuzuhören, während er den Rest von Sigmund Freuds Brief an seinen Vater Hanns vorlas.
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Lieber Hanns, ich muss zugeben, in diesem Moment wurde mir kurz angst und bange. Du weißt, wie sehr ich jede Art von Aberglauben verabscheue. Aber für einen Moment glaubte ich tatsächlich an höhere Mächte, die hier am Werk waren. Aber dann besann ich mich wieder auf die Vernunft. Dieses Rätsel musste mit logischen Mitteln zu lösen sein.
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Zunächst einmal galt es aber, meinen zutiefst verstörten Patienten zu beruhigen und seine neuerlichen Brandwunden zu versorgen. Wie beim letzten Mal konnte er sich nur noch vage an die Ereignisse aus seinem Traum erinnern. Auch das, was er mir im Schlafe berichtet hatte, war seinem Geiste wieder entschwunden und vermochte es nicht mehr, seine Erinnerung zu wecken.
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Aber noch war ich mit meinen Mitteln nicht am Ende. Er stimmte einer Hypnose zu, mit der ich seine vergrabenen Erinnerungen wieder ans Tageslicht holen wollte.
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‚Das Schloss. Das Schloss. Du bist wieder zurück im Schloss,‘ flüsterte ich in sein Ohr, nachdem ich ihn in Trance versetzt hatte. ‚Du bist wieder zurück im Schloss…‘
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‚Ich bin wieder zurück im Schloss… Die Frau…‘
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‚Die Frau ist wieder da…?‘
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‚Die Frau.‘
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‚Die Frau… Wie sieht sie aus…?‘
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‚Sie ist alt. Ganz alt… das Haar… so weiß…‘
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‚Was macht die Frau…?‘
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‚Sie reicht mir etwas… einen Kelch… ‚Trink‘, sagt sie! ‚Trink!‘
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‚Die Frau… was fühlst du? Wie fühlst du dich.‘
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‚Ich… ich bin nervös. Ängstlich.‘
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‚Ängstlich der Frau wegen?‘
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‚Nein… sie… sie will mir helfen. Mich heilen… Diese Träume…‘
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‚Die Frau… ist eine Heilerin?‘
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‚Sie versteht. Endlich… Endlich versteht jemand… ich trinke… es schmeckt bitter… ich schüttele mich… müde… ganz müde…‘
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‚Es ist dunkel. Ganz dunkel.‘
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‚Schau genau hin. Wo bist du?‘
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<Ende Folge 31 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Licht… es flackert… eine Kerze… überall Kerzen… Bücher… so viele Bücher… ein Mann! Er kommt auf mich zu.‘
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In diesem Moment, lieber Hanns, kam mir eine Idee: Ich griff nach einem Bogen Papier und einem Bleistift, steckte ihm meinem hypnotisierten Patienten zwischen Daumen und Zeigefinger und führte seine Hand sanft über das Papier.
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‚Der Mann, schau ihn dir genau an… ganz genau. Zeichne sein Gesicht…‘
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‚Sein Gesicht…‘
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Und tatsächlich! Die Finger meines Patienten bewegten sich zwischen meinen, drückten den Bleistift auf das Papier und es nahm ein Gesicht Gestalt an, von dem ich dir ein Faksimile hier beifüge, auf dass es in Zukunft nützen sein werde.
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‚Sie kommen, sie kommen!‘ rief er. Wieder dieselben Worte, wieder genauso panisch ausgerufen wie zuvor im Traum.
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‚Wer kommt?‘
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‚Der Mann… er… sagt es nicht. Aber… er gibt mir etwas… drückt es in meine Hand.‘
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‚Was ist es?‘
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‚Wie ein Stein… Flacher… Fest… es glänzt schwarz … Ich verstehe nicht… Was soll ich damit? Ich verstehe nicht…‘
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‚Was sagt der Mann? Sag es mir!‘ Ich muss zugeben, lieber Hanns, fast hätte ich meinen Patienten geschüttelt, so zum Zerreißen gespannt war mein eigener Geduldsfaden.
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‚Er… Er… schaut mich an. Diese Kleidung… „Ich bin zu früh!“ sagt er. Er schüttelt mich. Er greift mich… Er wirft mich zu Boden… Seine Stimme… Er schreit in mein Ohr… „Wiener Berggasse 19! Oh Gott! Wiener Berggasse 19! Wiener Berggasse 19!“ Er reißt mein Gewand auf… „Oh Gott, verzeihe mir.“ Aber was denn? Was machst…? Die Kerze…! Die Kerze!
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‚Die Kerze… Was macht er mit der Kerze?‘
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‚Nein, nicht! … Nein, geh weg damit! … Geh weg! Ahhhhhhhh!“
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Mit diesen Worten, lieber Hanns, riss mein Patient seine Augen schreckgeweitet auf und bevor ich mich versah, hatte er mir einen veritablen Kinnhaken verpasst und mich seinerseits ins Reich der Träume geschickt. Als ich wieder erwachte, war er fort. Ich sollte ihn nie wieder sehen.
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<Ende Folge 32 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Er hat ihn also nie wieder gesehen.“ Ich schaute Benjamin Sachs skeptisch an.
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„So steht es hier. Freud hat richtig kombiniert, dass es sich bei der Zahlenkombination um ein Datum handelte. Und weil er wusste, dass er dieses Datum zu Lebzeiten nicht mehr erreichen würde, schrieb er diesen Brief und schickte ihn an seinen alten Freund, meinen Vater Hanns. Und der hat ihn in der Familie weitergegeben. .
„Aber warum hat er ihn nicht innerhalb seiner eigenen Familie weitergegeben?“
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„Mein Vater war ja schon 1932 aus Sorge vor den Nationalsozialisten nach Boston ausgewandert. Vielleicht wollte er ganz sicher gehen, dass Hitlers Schergen nicht in Besitz dieses Wissens gelangen? Ich kann da auch nur spekulieren.“
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„Und dann haben Sie mit dieser Zeichnung an diesem Datum an diesem Ort auf mich gewartet und gehofft, dass etwas Besonderes passiert?“
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„Genau! Und Sie sind ja auch gekommen!“ Er stieß mit seinem Zeigefinger immer wieder bestätigend auf die Zeichnung, die zweifelsfrei mein Gesicht zeigte.
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„Na großartig“, stöhnte ich. .
„Was ist denn?“ fragte Benjamin. „Das ist doch ganz fabelhaft. Sie hier, wie vorhergesagt, nach all dieser Zeit.“
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„Ja, und Sie haben all die Jahre auf mich gewartet auf der Suche nach einer Antwort. Und wofür? Für nichts!“ Ich schlug mir die Hände über dem Kopf zusammen. „Ich weiß doch noch weniger als Sie, was das alles hier soll!“
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<Ende Folge 33 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Endlich dämmerte es. Obwohl ich in der Nacht kein Auge zugetan hatte, kam es mir vor, als wäre ich gerade erst aus einem bösen Traum erwacht. Ich starrte anklagend auf mein Smartphone, mit dem alles begonnen hatte. Es starrte nicht zurück.
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Irgendwie war alles verbunden. Das Telefon. Freud. Sein geheimnisvoller Patient. Die Bibliothek in Wolfenbüttel. Der unbekannte Traumreisende. Und ich.
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Sachs hätte mir einen Tee gekocht und eine Marmeladensemmel geschmiert, um auch physisch mit dem Verdauen nachzukommen. Er hatte sich vor einem Monat als Researcher im Freud-Museum angemeldet und den Schlüssel für das Haus bekommen. Schließlich gehörte er – in zweiter Generation, aber immerhin, mit zur Geschichte Sigmund Freuds.
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Der alte Mann tat mir leid. Er hatte sein Leben lang auf Antworten gewartet und war fest davon überzeugt gewesen, dass sich das Mysterium am vorhergesagten Tag meiner Ankunft im Museum auflösen würde.
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Aber statt seine Enttäuschung offen zu zeigen, verbreitete er Zweckoptimismus. Mit der Bibliothek in Wolfenbüttel und dem Codex seien ihm vorher gänzlich unbekannte Faktoren ins Spiel gekommen, die er nun zu analysieren galt. Außerdem wollte er mir dieselben Techniken beibringen, wie Freud seinem Patienten, von dem wir dummerweise weder Namen noch eine genaue Personenbeschreibung hatten.
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Dann hörten wir einen lauten Knall.
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<Ende Folge 34 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Die Eingangstür!“ rief Benjamin Sachs, und schon hörten wir lautes Gepolter im Erdgeschoss. „Können das Ihre Verfolger sein?“
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Ich schaute ihn nur starr vor Schreck an.
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„Schnell“, rief Sachs und deutete auf einen Schrank in der Wand. „Hier hinein!“
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Ich lachte humorlos auf. Als würden meine Verfolger nicht in einen Wandschrank schauen…
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Er stieß mich hinein und schloss genau in dem Moment zu, als die Tür gewaltsam eingetreten würde.
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„Polizei! Keine Bewegung!“
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„Meine Hände sind oben, es besteht kein Grund zu schießen“, hörte ich Sachs‘ Stimme, seltsam gefasst.
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Geben Sie mir einen Grund“, knurrte die Stimme eines Polizisten zurück, dann klickten Handschellen. „Benjamin Sachs, ich verhafte Sie wegen Mordes an Renate Schiller und ihren beiden Kindern Leo und Viola!“
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<Ende Folge 35 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Mir stockte der Atem. Frau Schiller – das war doch die nette Bibliothekarin aus Wolfenbüttel, vor der ich fliehen musste, weil jemand in ihr Büro eingebrochen war, den wertvollen mittelalterlichen Codex in Brand gesteckt hatte und sie nun mich verdächtigten. Und Leo war ihr Sohn, der mein kaputtes Smartphone wieder repariert hatte und den ich im Laden mit seiner Schwester besucht hatte.
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Und alle drei sollten jetzt tot sein? Ermordet ausgerechnet von dem Mann, zu dem ich gerade erst Vertrauen gefasst hatte und der mir doch dabei helfen wollte, Antworten zu finden.
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Das konnte nicht sein! Ich traute Benjamin Sachs einfach nicht zu, kaltblütig drei unschuldige Menschen zu töten. Aber eins war schon seltsam: Warum hatte der alte Mann so gefasst auf die Polizei reagiert? Fast so, als hätte er gewusst, dass sie kommen – und zwar für ihn und nicht für mich!
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Tatsächlich waren die Polizisten, nachdem sie Sachs in Gewahrsam genommen hatten, wieder abgezogen ohne weiter den Raum zu durchsuchen. Seine Idee, mich im Wandschrank zu verstecken, hatte funktioniert. Eins war sicher, er hatte nicht gewollt, dass die Polizei mich erwischt oder mir unbequeme Fragen stellt. .
Ich wartete noch eine Viertelstunde, bis ich mir sicher war, dass die Polizisten nicht zurückkommen würden. Dann öffnete ich vorsichtig die Tür des Wandschranks und lugte nach draußen.
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Sigmund Freud starrte mich an, überrascht, aber auch ein wenig belustigt: „Entschuldigen Sie, der Herr“, fragte mich der berühmte Psychoanalytiker, „Aber was zum Teufel machen Sie in meinem Wandschrank?“
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<Ende Folge 36 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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„Ich habe mich vor der Polizei versteckt“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Wenn die ganze Welt um dich herum verrückt spielt, kann ein bisschen Ehrlichkeit nicht schaden, dachte ich.
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„Nun, da sind Sie derzeit sicher nicht der einzige“, lachte der Psychoanalytiker freudlos. „Aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass mein Wandschrank kein gutes Versteck vor diesen Barbaren ist. Erst vorgestern waren Sie hier und haben alles durchwühlt.“
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„Mir hat er ganz gute Dienste geleistet“, gab ich trocken zurück. „Und zumindest stehen jetzt Sie vor mir und kein sprechender Löwe mit Gottkomplex.“
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„Wie meinen?“ gab Freud zurück und Denkerfalten zeigten sich auf seiner Stirn. „Ein sprechender Löwe mit Gottkomplex, das klingt nicht uninteressant…“
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„Vergessen Sie’s einfach!“ schnitt ich seine Rede ab und seufzte. „Sie sind also wirklich DER Sigmund Freud…?“
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„Wer sollte ich denn sonst bitte sein?“ Freuds Augenbraue zog sich nach oben. „Wir befinden uns in Wien, dies hier ist meine Praxis und dieser einzigartige kluge Geist – Freud tippte sich tatsächlich mit dem Zeigefinger mehrfach an seine Stirn – gehört selbstredend mir.“
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„In Ordnung, ich glaube Ihnen ja“, erwiderte ich. Aber dann verraten Sie mir bitte: Welches Datum haben wir heute?“
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„Oh, wir leben in dunklen Zeiten!“ antwortete Freud. „Wir schreiben den 17. März 1938 – und wenn Sie wirklich auf der Flucht vor der Polizei sind, sollten Sie dieses dem Unheil geweihte Land möglichst schnell verlassen.“
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< Ende Folge 37 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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Natürlich. Nazis. Ich meine, was hatte ich auch anders erwartet. Eine Zeitreise-Geschichte ohne Nazis? Wie absurd wäre das denn gewesen? So war ich also vom Regen in die Traufe geraten: Vor ein paar Tagen hatten Hitlers Schergen die Macht in Österreich übernommen. Soviel hatte ich von meinem Besuch im Freud-Museum noch im Kopf behalten. Freud selbst würde in ein paar Monaten die Flucht nach England gelingen, wo er schon bald an seiner Krankheit sterben würde. Seine vier Schwestern würden bleiben und von den Nazis ermordert werden.
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Mir brummte der Schädel: Raum und Zeit, Wachzustand und Schlaf – auf diese Dinge konnte ich mich offenbar nicht mehr verlassen. Wo würde ich wohl landen, wenn ich durch Freuds Haustür nach draußen träte? Mitten im 30-jährigen Krieg? In Pompeji am Tag des Vulkanausbruchs? Und was würde geschehen, wenn ich es wagen sollte, meine Augen zu schließen und einzuschlummern? Würden die Wölfe ihre Aufgabe beenden und mich zerfleischen? Oder würde ich für ewig durch einen nicht enden wollenden Alptraum irren, bis mein Verstand zu Grütze zerflossen wäre?
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„Entschuldige Sie…“, unterbrach Freud meine Gedanken. „Kennen wir uns nicht von irgendwoher? Freuds Augen verengten sich zu Schlitzen, er schaute mir jetzt genau in die Augen . „Ich bin mir ganz sicher, dass wir…“ Dann sah ich plötzlich staunende Erkenntnis in seinem Gesicht. „SIE SIND DAS! Der Mann von der Zeichnung!“
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Dann holte er mit seinem Gehstock aus und schickte mich ins Reich der Träume. In meiner Hosentasche hielt ich mein Smartphone fest umklamert. Es war noch an.
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< Ende Folge 38 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Schwärze umhüllte mich. Ich öffnete meine Augen. Es blieb schwarz. Jemand… etwas… lachte. Laut, spottend. „Mach doch das Licht an, rief die Stimme, und plötzlich spürte einen Lichtschalter zwischen meinen Fingern. Ich legte ihn um – und es wurde hell! Ich hatte die Sonne am Himmel angeknipst.
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Ich stand ganz alleine auf einem weiten Feld – und gleichzeitig in meinem WG-Zimmer – und gleichzeitig vor dem Eingang der Wolfenbütteler Bibliothek – und gleichzeitig vor einem mittelalterlichen Schloss – und gleichzeitig in meinem alten Kinderzimmer – und gleichzeitig in Sigmund Freuds Wohnung – und gleichzeitig in meiner alten Schule. Die Szenerie waberte, floss durch meine Sinne, aber sie konnten sich nicht darauf einigen, was sie sahen, hörten, rochen.
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„Trink“ lachte die körperlose Stimme. Ich trank. Hatte ich schon die ganze Zeit diesen Becher in der Hand gehabt? Das Gesöff schmeckte süß und bitter zugleich. Aber der Becher wurde nicht leerer. „Trink!“ Ich spuckte, wäre fast erstickt, dann ließ ich endlich den Becher los. Er fiel zu Boden, machte aber kein Geräusch.
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Willkommen zurück,“ lachte die körperlose Stimme. „Und danke für das Licht! Das habe ich gebraucht!“ Wie sie das sagte, so kühl und kalt und böse, schauderte es mir. .
< Ende Folge 39 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Zu spät, viel zu spät“, klagte die Stimme der Bibliothekarin. Ich schaute nach unten sah aber nur ein weißes Kaninchen. In der einen Hand hielt es den Codex, in der anderen eine Taschenuhr.
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„Du musst weg von hier!“ rief die Stimme von Benjamin Sachs. Er sprach nicht zu mir, sondern rief die Worte in einen viel zu großen Telefonhörer, den er in der Hand hielt. Das geringelte Telefonkabel endete in seiner Schläfe.
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Es klingelte in meiner Hosentasche, doch anstelle meines Smartphones hielt ich ein gezacktes Spiegelstück in den Händen. Ich schaute hinein, und sah mich, wie ich in den Spiegel schaute, und mich sah, wie ich in den Spiegel schaute, und mich sah, wie ich in den Spiegel schaute, und mich…
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Ein Mann schlug mir den Spiegel aus der Hand. Es war Sigmund Freud. Sein Gesicht zerlief, bis nur ein grinsender Mund übrig geblieben war.
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Es klingelte wieder. „Es ist für dich!“ rief Sachs und reichte mir den Hörer weiter. „Hilfe!“ rief meine eigene Stimme durch den Hörer in mein Ohr. Dann wiederholte sie einen Zahlencode: „BE-231-AC… BE-231-AC… BE-231-AC…“
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Das weiße Kaninchen reichte mir eine Serviette und einen Kugelschreiber. Ich schrieb auf: „Hilfe! BE-231-AC“ Dann gab ich die Serviette zurück. Das Kaninchen faltete sie zu einem Papierflieger und ließ ihn fliegen.
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Hinter mir klackte etwas.
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< Ende Folge 40 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Hinter mir klackte etwas. Es war mein Mathelehrer mit der Heckenschere. Klack-klack. Klack-klack. Er stand vor einem Berg entzwei geschnittener Smartphones, aus dem wild die Funken flogen.
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„Das Licht“ kreischte die böse körperlose Stimme und überschlug sich fast vor Freude. Ein Funken flog hoch in den Himmel und entzündete den Horizont. Das Feuer fraß sich durch die Himmel wie Papier. Erst wellte er sich, fing lichterloh Feuer, dann brannte der gesamte Horizont. Zurück blieb eine Schwärze, tiefer als ich sie jemals gesehen hatte.
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Wölfe rannten jaulend aus dem in Flammen stehenden Waldstück. Ihr Fell brannte, und sie trugen das Feuer nur noch schneller, näher an mich heran. Nur Freuds körperloses Grinsen grinste weiterhin, aber wo Zähne sein sollten, züngelten nun Flammen.
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„Zu spät, viel zu spät“, schluchzte das weiße Kaninchen, sein Jackett hatte bereits Feuer gefangen. Ein Wolf rannte auf mich zu, nun nur noch ein Feuerball auf Beinen, setzte zum Sprung an… Ich hielt mir beide Hände zum Schutz vors Gesicht und…
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… und spürte plötzlich etwas Kaltes, Nasses in mein Gesicht platschen. Wasser!
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„Jetzt aber aufgewacht“, hörte ich Sigmund Freuds Stimme. Er hielt einen leeren Wassereimer in der Hand. „Die Apokalypse ist auf morgen verschoben.“
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< Ende Folge 41 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Freud hatte mir ein Handtuch gereicht, mit dem ich mich behelfsmäßig abtrocknen konnte. Mich niedergeschlagen zu haben, sei eine Kurzschlussreaktion gewesen, rechtfertigte er sich. Er hatte mich als den Mann von der Zeichnung seines seltsamen Patienten wiedererkannt und wollte sicher gehen, dass nicht auch ich ihm fortlaufen würde.
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„Dieses Geheimnis aufzuklären ist wichtiger als unser beider körperlicher Wohlbefinden“, belehrte er mich. Das war für ihn freilich einfach zu sagen. Schließlich hatte ich und nicht er einen Gehstock über den Kopf gezogen bekommen.
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Für die unfreiwillige Dusche war ich ihm allerdings äußerst dankbar. Es hatte mich nicht nur in allerletzter Sekunde aus meinem Albtraum befreit, sondern mir wohl auch das Leben gerettet. Als die Feuersbrunst im Traum mir immer näher gekommen war, hatte auch mein schlafender Körper – wieder! – Anzeichen einer Verbrennung gezeigt. Freud, mit der Symptomatik bereits vertraut, hatte geistesgegenwärtig reagiert, und mich mit Wasser übergossen.
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Mit meinem Smartphone hatte ich im Traum übrigens wieder ein Foto geschossen. Freud war dabei gewesen, wie ich „einen seltsam schwarz-glänzenden, rechteckigen Apparat“ aus der Tasche gefischt, kurz hoch gehalten und wieder eingesteckt hatte. Als ich ihm erklärte, dass es sich dabei um ein Telefon und einen Fotoapparat gleichzeitig handelte, lachte er spöttisch auf: „Das sind also die großen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts!“
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Das Foto zeigte glühende Flammen, sonst nichts. Diesmal aber war mir die meiste Erinnerung an meinen Traum geblieben. „Es scheint, als würde die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit immer weiter verschwimmen“, überlegte Freud. Er hatte es sich auf einem Stuhl bequem gemacht und rauchte wie ein Schlot Zigarre.
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< Ende Folge 42 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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Da lag ich also auf Sigmund Freuds Couch und hatte wie von selbst zu reden begonnen. Der Psychoanalytiker hörte begierig zu und machte sich Notizen. „Soso“, sagte er manchmal. Und: „Mhh-mhh.“
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Als ich auf seinen Brief zu sprechen kam, den mir Benjamin Sachs vorgelesen hatte, rief er triumphierend aus: „2018! Die Zukunft! Ich wusste es! Ich wusste es!“ Tatsächlich hatte Freud eben diesen Brief erst vor wenigen Tagen, kurz vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich, an Hanns Sachs nach Boston abgeschickt.
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Kurz zögerte ich, fragte mich, ob ich mit meinen Erzählungen aus der Zukunft jetzt den Zeitfluss durcheinander bringen würde. Aber das war mir ehrlich gesagt jetzt auch egal. Ich brauchte dringend einen Verbündeten in diesem Wirrwarr aus Raum, Zeit und Traum – und wenn dieser Verbündete einer der größten Köpfe in Sachen Traumdeutung war, umso besser.
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< Ende Folge 43 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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„So wie ich das sehe, müssen wir uns diesem Mysterium von mehreren Seiten gleichzeitig nähern“, sagte Freud. „Erstens…“ Er klopfte wieder mit seinem Zeigefinger an meine Stirn. „Erstens müssen wir die Hinweise entschlüsseln, die in ihrem Oberstübchen vergraben liegen. Ich befürchte allerdings, dass meine bewährten Theorien zum Träumen hier ins Leere laufen. Ich möchte für Erste folgende Arbeitshypothese formulieren: Ihre Träume sind als reale Reisen zu betrachten – mit ebenso realen Konsequenzen für Ihr körperliches Wohlbefinden.“
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Das klang vernünftig. Mein Knöchel schmerzte noch immer von dem Wolfsbiss.
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„Eine zweite These: Ihre Zeitreise ist nicht echt. Sie befinden sich noch immer in meinem Wandschrank in ihrer Zeit, die für mich die Zukunft ist, und träumen all dies. Und ich bin nur ein Hirngespinst ihres Unterbewusstseins.“
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„Ein Traum im Traum?“ fragte ich. „Das ist ja wie bei ‚Inception‘!“
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„Wie meinen?“ fragte Freud. „Ich dachte eher an eine Matroschka, diese russische Holzpuppe, die sich öffnen lässt, und in der immer kleinere, wiederum zu öffnenden Varianten ihrer selbst zu finden sind.“
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„Das heißt, ich muss irgendwie aufwachen, um auf eine höhere Traumebene zurückzukommen?“ Ich kniff mich in den Arm. Es schmerzte, aber nichts geschah.
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Freud lachte. „So einfach funktioniert das nicht. Aber warum sollten Sie auch aufwachen, wenn Sie gerade erst hier gelandet sind? Nein – mit Aufwachen allein ist es nicht getan. Es muss einen Grund haben, dass sie hier – und in dieser Zeit – gelandet sind.“
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Ich überlegte. Was war so besonders an diesem Zeitpunkt? Freud hatte seinen Brief an Hanns Sachs gerade abgeschickt, war aber noch nicht nach England geflohen…
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< Ende Folge 44 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Ich habe da so eine Idee“, sagte Sigmund Freud nachdenklich. „Aber Sie wird Ihnen nicht gefallen.“
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„Ach wirklich“, erwiderte ich. Wenn nichts mehr geht, Sarkasmus geht immer.
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„Sie haben mir doch gerade von diesem Codex erzählt, dem aus der Bibliothek mit ihrem Bildnis drin…“
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„Ja, genau. Aber der Codex ist verloren, verbrannt. Und die Bibliothekarin, die mir einige Passagen daraus übersetzt hat, tot.“
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„Nun,“ sagte Freud und zog einmal genüsslich an seiner Pfeife. „Das ist so nicht ganz korrekt. In IHRER Zeit mag das Buch verbrannt worden sein. Im MEINER schreiben wir jedoch das Jahr 1938 – und zu diesem Zeitpunkt dürfte der Codex noch sicher verwahrt in der Bibliothek in Wolfenbüttel schlummern.“
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Aber natürlich! Wieso war ich nicht auf diese Idee gekommen! Ich grinste. „Das heißt, wir müssen nur nach Wolfenbüttel fahren und können dort in der Bibliothek nach dem intakten Buch suchen?! Und schauen, ob die Bibliothekarin etwas übersehen hat?!“
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„Von wegen ’nur’…“ Ein Schatten flog über Freuds Gesicht.
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Ich Idiot. Natürlich. Da hatte ich in meiner Begeisterung doch fast eine Kleinigkeit übersehen – eine Kleinigkeit… namens Adolf Hitler.
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< Ende Folge 45 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Ich komme selbstverständlich mit“, sagte Freud. „Ich habe noch immer gute Kontakte, die wir nutzen können. Mein Freund William in Paris…“
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„Das geht nicht“, unterbrach ich ihn.
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„Und warum bitte schön nicht?“ Freud lachte kurz auf. „Dieser 82-jährige Körper hat sowieso nicht mehr lange zu leben.“ .
Ich schluckte. Aus den Geschichtsbüchern wusste ich, dass Sigmund Freud bereits am 4. Juni 1938 gemeinsam mit seiner Frau und den Kindern ins Exil nach London gehen würde. Und dort 15 Monate später an Krebs starb.
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„Ihre Familie… Sie müssen Ihre Familie aus Wien fortbringen, sonst…“ stammelte ich. Natürlich wollte ich nicht allein geben, aber…
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Freud seufzte. „Ich muss nicht aus der Zukunft kommen, um zu wissen, was uns unter diesen Barbaren und Bücherverbrennern blüht. Meine Tochter Anna hat schon alles in die Wege geleitet…“
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Da stand er vor mir und war sich so sicher, alles unter Kontrolle zu haben. Und ich brachte es einfach nicht übers Herz, ihm zu erzählen, dass vier seiner Schwestern die Ausreise verwehrt bleiben würde und sie in Konzentrationslagern ermordet werden würden.
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„Hören Sie!“ Freud fixierte mich mit einem stechenden Blick. „Entweder hat für mich hier sowieso nichts eine Bedeutung, weil ich nur ein Hirngespinst ihres träumenden Geistes bin. Oder wir haben es mit einer Bedrohung zu tun, die die Grenzen zwischen Raum, Zeit und Realität sprengt. Dagegen sind die Nationalsozialisten nur ein Vogelschi…“
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„Sagen Sie das bitte nicht“, unterbrach ich ihn brüsk.
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„Wie auch immer!“ Freud setzte sich auf. „Ich werde nun meine Familie darüber informieren, was zu tun ist, und einige Gespräche führen müssen. Und Sie bleiben hier und warten.“
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Freud ging zum Bücherregal, zog einen dicken Wälzer heraus und reichte ihn mir. „Hier – lesen Sie das! Das ist ein so hervorragendes Werk, da schlafen Sie auf keinen Fall ein.“
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Ich blickte auf den Einband. „Die Brüder Karamasow“ von Dostojewski. Na super.
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< Ende Folge 46 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Als die Tür hinter Freud ins Schloss gefallen war, atmete ich erst einmal tief durch. Ich hatte versprochen, in seinem Arbeitszimmer zu warten, um nicht unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Was allerdings nicht hieß, dass ich auch seiner Leseempfehlung folgen musste.
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Also legte ich Dostojewskis berühmte Brüder ungelesen wieder beiseite, holte mein Smartphone aus der Tasche und schaltete es ein.
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Empfang gab es im Jahre 1938 natürlich nicht, aber ich wollte mir trotzdem noch einmal alle Fotos durchsehen, die mein „Traumphon“ gespeichert hatte. Vielleicht hatte ich ja etwas übersehen?
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Ich blätterte durch meine Fotobibliothek zurück bis zu dem ersten Bild, mit dem mein seltsames Abenteuer begonnen hatte. Das Selfie von mir in meinem alten Kinderzimmer…
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Moment einmal…! Erst jetzt fiel mir auf, was eigentlich auf dem alten Poster hinter mir an der Wand zu sehen war. Ich hatte dem Motiv damals keine Bedeutung beigemessen, aber angesichts meiner jüngsten Erlebnisse fragte ich mich, ob das wirklich noch ein Zufall sein konnte. Das Poster zeigte zwei junge Männer, die auf einer fliegenden Telefonzelle hockten. Es war das Kinoplakat zu „Bill und Teds verrückte Reise durch die Zeit“ – einer meiner absoluten Lieblingsfilme damals.
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Ein Zeitreisender hatte den beiden Highschool-Kids Bill und Ted eine Zeitmaschine zur Verfügung gestellt, damit sie eine Hausarbeit für ihren Geschichtsunterricht fertig stellen können. Im Laufe ihrer Reisen durch Zeit und Raum nahmen sie allerlei berühmte Persönlichkeiten ins Schlepptau, um später mit ihrer Hilfe das beste Referat der Weltgeschichte zu halten. Napoleon gehörte ebenso zu dieser illustren Runde wie Ludwig von Beethoven, Billy the Kid und… Sigmund Freud.
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Ich schluckte und blätterte weiter. Was ich wohl noch auf den Fotos übersehen hatte…?
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<Ende Folge 47 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Meine Hoffnung, in den anderen Fotos aus meinem Handyspeicher einen neuen Hinweis auf meine seltsame Lage zu finden, sollte sich nicht erfüllen. Im letzten Foto, das ich im Traum mit meinem Smartphone geschossen hatte, kam es mir zwar so vor, als würde mir aus den lodernden Flammen eine scheußliche Fratze entgegen grinsen. Aber das konnte auch bloße Einbildung sein.
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Da klopfte es an der Tür. „Kommen Sie rein, Herr Freud“, rief ich, automatisch den Psychoanalytiker erwartend. „Wohl eher Frau Freud“ lachte die Dame, Anfang 40, die jetzt eintrat. „Sie haben meinen Vater erwartet. Ich bin Anna Freud.“
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„Äh, ja, schon“, druckste ich herum und gab ihr zögerlich die Hand.
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„Jetzt machen Sie sich mal keine Sorgen, mein Vater hat mir alles erklärt“, sagte Anna Freud und lächelte. „Und ich glaube ihm – und ihnen.“
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„Sie glauben mir, dass ich durch Raum und Zeit reise, dass meine Träume irgendwie mit der Wirklichkeit verknüpft sind, ich vielleicht jetzt gerade träume und unserer Welt ein feuriges Inferno bevorsteht, wenn wir es nicht verhindern können…?“
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Glauben Sie mir, mit meinem Vater erlebt man Dinge, die sind noch viel unvorstellbarer.“ Anna Freud seufzte hörbar.
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„Wirklich?“ fragte ich, ernsthaft überrascht.
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„Nein, das war ein Scherz“, gab Freuds Tochter sarkastisch zurück. „Das hier ist schon so ziemlich das Verrückteste, was ich jemals gehört habe.“
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< Ende Folge 48 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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Ich stöhnte. Sie hatten schon einen ganz speziellen Humor, diese Freuds.
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„Aber diverse Dinge, die Sie meinem Vater über unsere Familie erzählt haben, kann eigentlich kein Außenstehender wissen“, fuhr Anna Freud fort. „Und egal ob wir jetzt in Ihrem Traum leben oder nicht – für mich fühlt sich diese Welt hier – leider – ziemlich real an.“
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So ein Glück aber auch. Jetzt zahlte es sich aus, dass ich während meines Tags im Freud-Museum jede Infotafel dreimal gelesen hatte.
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„Deswegen muss ich in Betracht ziehen, dass Sie – so verrückt es auch klingen mag – die Wahrheit sagen. ‚Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.’“
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Ich schaute sie fragend an.
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„Shakespeare“ seufzte sie. „Nun ja, die alten Klassiker sind in Ihrer Zukunft wohl etwas aus der Mode geraten.“
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Ich hielt es für besser, jetzt nichts zu sagen.
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„Nun ja“, unterbrach Anna Freud die unangenehme Stille. „Eins ist auf jeden Fall klar. Mein Vater wird nicht mit Ihnen reisen! Er ist viel zu krank! Und sein Gesicht viel zu bekannt.“
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„Aber eben meinten Sie doch noch, dass Sie mir glauben und…“
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„Jetzt hören Sie mir doch erst einmal zu.“ Mein Gegenüber grinste. „Sie werden ja von einem Freud begleitet werden. Aber eben nicht von Sigmund, sondern von Anna.“
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< Ende Folge 49 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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Anna Freud hatte mir bereits einen Koffer mit Hygieneartikeln und Ersatzwäsche gepackt und wuppte ihn nun ins Zimmer. Dann warf Sie mir Hemd, Hose und Jackett zu. „Anziehen!“ Mit meinen jetzigen Kleidern würde ich „auffallen wie ein bunter Hund“. Meine Einwände, dass die Löcher in meiner Jeans modischen Charakters sein, ließ sie nicht gelten. „Ihr 21. Jahrhundert hat wirklich einige sehr interessante Gepflogenheiten.“
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„Das können Sie laut sagen!“ gab ich entwaffnet zurück.
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Sigmund Freud verabschiedete uns widerwillig, musste sich aber den Argumenten seiner Tochter beugen. „Manchmal wünsche ich mir, mein Gesicht wäre den Menschen wieder unbekannter“, seufzte er. Sowohl Tochter Anna als auch ich blickten ihn skeptisch ab. Ein resignierter Schmunzler umspielte seine Lippen. Ertappt.
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Auf den Straßen Wiens marschierten die Nationalsozialisten. Mit dem selbstsicheren Gesicht des Siegers stolzierten sie daher, führten sich auf, als würde ihnen die Welt gehören. Eine unglaubliche Beklemmung überkam mich.
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„Wohin das noch alles führen wird…“ seufzte Anna Freud.
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„Das können Sie sich gar nicht vorstellen“, sagte ich leise.
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< Ende Folge 50 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Im Zug ließen wir uns erleichtert in die Sessel unseres Sechserabteils fallen. „So überraschend weich und bequem“, merkte ich an. Anna Freud lachte. „Fahren im 21. Jahrhundert etwa alle Holzklasse?“ Dann wurde sie wieder ernst und schloss die Vorhänge: „Wir sind unter uns. Es werden keine weiteren Gäste zusteigen.“
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„Aber was ist mit der Grenze? Ich habe doch gar keinen Pass…“
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„Sie meinen die Grenze, die keine mehr ist, weil Österreich jetzt ‚heim im Reich‘ ist?“ Die letzten Worte spuckte Anna Freud förmlich aus. „Und selbst wenn…“ Freuds Tochter kramte in ihrer Handtasche und holte zwei Pässe hervor. „Hiermit sollten wir erst einmal durchkommen.“
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Ich war ernsthaft beeindruckt. „Wie haben Sie so schnell…?“
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„Berufsgeheimnis“, antwortete Freuds Tochter und legte ihren rechten Zeigefinger auf ihre Lippen. „Schhhhhh.“
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Ich machte die Reißverschlussgeste, öffnete dann trotzdem meinen Mund und warf einen imaginären Schlüssel hinein. „Meine Lippen sind versiegelt.“
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Anna Freud kicherte. „So – und bevor Sie das jetzt missverstehen. Ich flirte nicht mit Ihnen, sondern betreibe Konversation.“
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Verdammt, dachte ich, sagte aber laut: „Da sind wir uns ja einig. Außerdem ist mir durchaus bewusst, dass ich bei Ihnen gar keine Chancen habe.“
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„Nun stellen Sie ihr Licht mal nicht so unter den Scheffel“ erwiderte Anna Freud kokett. „Viele Damen wären sehr glücklich über einen Mann, der die Lottozahlen voraussagen kann.“
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„Das kann schon sein. Aber IHR Herz wird immer Ihrer Freundin Dorothy Burlingham-Tiffany gehören.“
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Anna Freuds Stimme wurde streng: „Ich weiß gar nicht, wie Sie auf diese Idee kommen, wir sind rein freundschaftlich…“
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Da wurde plötzlich die Tür unseres Abteils aufgerissen und ein Mann in deutscher Grenzeruniform trat ein. „Ausweise her, aber mal n bisschen zackig!“
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< Ende Folge 51 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Ich schluckte, aber Anna Freud reichte dem Mann betont gelangweilt die zwei Pässe aus ihrer Handtasche.
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„Was n das?“ bellte der Grenzer. „Kann der Typ nich auf seinen eigenen Pass aufpassen?“
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„Sie belieben zu scherzen“, gab Freuds Tochter mit einem künstlichen Lacher zurück. „Wenn ich auf DEN nicht aufpasse, verliert der bis Berlin noch seine eigene Unterhose.“ Ich sagte nichts.
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Der Grenzer lachte dreckig. „Na gut. Alles in deutscher Hand. Haha! Gute Weiterreise. Heil Hitler!“
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„Heil Hitler.“ presste sich Anna Freud so leise wie möglich durch die Zähne. Und fügte ein lautes „s Hämorrhoiden“ hinzu, als die Abteiltür wieder geschlossen war. „So – und nun erzählen Sie mal bitte, was in der Zukunft alles besser läuft als jetzt. Schließlich haben wir eine Menge Zeit totzuschlagen. Und müssen verhindern, dass Sie einschlafen und am Ende noch den halben Zug mit Ihrer Selbstentzündungsnummer in Brand setzen.
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< Ende Folge 52 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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Zu Anfang berichtete ich Anna Freud vor allem von den großen, schönen Dingen: Von den Fortschritten in Sachen Gleichberechtigung, von der allgemeinen Akzeptanz psychotherapeutischer Behandlungen – und davon, dass sie in meiner Zeit ganz offen zu ihrer großen Liebe stehen könnte. Ihre Augen leuchteten auf: „Siehst du, jetzt mag ich deine Zeit schon viel mehr.“ Wir waren mittlerweile beim Du angelangt. „Dann kann ich es wohl verschmerzen, dass William Shakespeare in Vergessenheit geraten ist“, lachte sie.
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„Nun, ehrlich gesagt habe ich in der Schule nur nicht gut aufgepasst“, gestand ich ein.
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„Ich weiß“, lächelte sie. „Und jetzt erzähl mir noch ein bisschen von diesem Netzwerk, in dem es unendlich viele Katzenbilder gibt.“
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Verdammt! Dieses Lächeln! In einem typischen Dan-Brown-Roman wäre jetzt DIESER EINE Moment gekommen. Der Moment, in dem sich unsere beiden Gesichter immer weiter genähert hätten. Dieser Moment, in dem das gemeinsam erlebte Abenteuer die Funken sprühen lassen hätte, und in dem es dem Autoren völlig egal gewesen wäre, dass die historische Vorlage seiner Figur gar nicht auf Männer stand…
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Und dann fasste mich Anna Freud plötzlich am Arm und blickte mir ernst in die Augen: „So gerne ich auch deinen Geschichten vom Fortschritt lausche – du tanzt um den heißen Brei herum: Was musste passieren, bis es dazu kam? Wie lange wird dieser schlimme Hitler noch an der Macht sein? Und was geschieht mit meiner Familie?“ Anna Freud sah mich traurig an. „Wie lange wird mein Vater noch leben?“
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Ich schluckte und öffnete die Offline-Enzyklopädie auf meinem Smartphone. Und zeigte ihr alles.
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< Ende Folge 53 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Die Leichtigkeit, die zuvor zwischen uns geherrscht hatte, war dahin. Aschfahl starrte Anna Freud ins Leere. „Sechs Millionen?“ flüsterte sie ungläubig. „Sechs Millionen?“ Ich nickte traurig.
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„Wenigstens musste mein Vater das nicht mehr miterleben.“ Eine Träne lief über ihre Wange. Dann sagte sie lange Zeit nichts mehr.
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Erst nachdem wir am Bahnhof in Berlin ausgestiegen waren, kam wieder etwas Leben in Annas Gesicht. „Komm mit!“ sagte sie energisch und zog mich in Richtung Ausgang.
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„Ähh, müssen wir nicht hier in den Anschlusszug nach Wolfenbüttel steigen?“ fragte ich skeptisch. So sehr ich Berlin im 21. Jahrhundert auch schätzte, so wenig Zeit wollte ich doch 1938 in dieser Nazihochburg verbringen.
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„Den können wir erst morgen wieder nehmen. Wir übernachten heute Nacht in einem Hotel!“ Annas Stimme ließ keine Widerworte zu. „Kannst du vielleicht eins empfehlen? Ich meine, wenn es in 80 Jahren noch immer steht, kann der Service nicht schlecht sein.“
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„Ich denke, das Ibis hat noch nicht geöffnet“, gab ich trocken zurück.
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„Na gut!“ rief Anna, plötzlich betont übermütig und beschwingt. „Ich wollte sowieso immer schon mal ins Adlon! Und du…“ Anna Freud griff in ihre Handtasche und reichte mir ein Döschen mit verräterisch weißem Pulver. „Und du hältst Wache, während ich schlafe…“
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Schlaflos in Berlin, na super…
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< Ende Folge 54 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Das Adlon verschlug mir fast die Sprache. Der Kaffeehausbesitzer Lorenz Adlon hatte das Hotel 1907 als prachtvollen Klassizismus-Bau „Unter den Linden“ errichten lassen – mit ausdrücklichem Wohlwollen des deutschen Kaisers. Schon damals hatte es hier Elektrizität und fließend warmes Wasser auf allen Zimmern gegeben.
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Ein weiterer Pluspunkt: Die zahlreichen Interieurs in den unteren Etagen waren rund um die Uhr nutzbar: unter anderem eine Bibliothek, ein Wintergarten, ein Rauchersalon und ein großer Ballsaal. Ich musste also nicht in unserem Hotelzimmer schlaflos auf eine weiße Wand starren, während Anna schlief, sondern konnte mich durchaus beschäftigen ohne groß aufzufallen.
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Die großen Jahres des Adlon waren 1938 allerdings schon vorbei gewesen, weshalb es Anna und mir ohne Probleme gelang, ein Zimmer zu bekommen. Wieviel Geld und ob dafür noch etwas anderes den Besitzer wechselte, wusste ich nicht. Und wenn irgendjemand Sigmund Freuds Tochter erkannt hatte, dann ließ er es sich nicht anmerken. Es schien eine unausgesprochene Übereinkunft zu geben: Wer sich hier ein Zimmer leisten konnte, der bezahlte die Diskretion – auch der übrigen Gäste – mit.
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< Ende Folge 55 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Auf dem Weg zum Adlon hatte sich Anna Freud etwas Aureole-Haarfärbemittel besorgt, das ich ihr nun im äußerst prächtigen Badezimmer auftragen half. „Sicher ist sicher“, sagte sie. .
Ich schaute zweifelnd auf die Verpackung. „Platinblond? Fällst du damit nicht noch mehr auf?“
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„Freilich werde ich das. Aber kein Mann wird eine platinblonde Anna Freud erkennen“, gab meine Reisebegleitung zurück. „Haare machen Leute.“
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„Naja, wenn eine Brille aus Clark Kent Superman macht…“, murmelte ich.
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„Supermann? Clark Gable?“ fragte Anna. „Nicht mein Stil. Zu schmierig. Wenn schon Hollywood, dann Jean Harlow. Aber die ist ja leider…“
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Es klopfte an der Tür. Ich schrak zurück. Aber die Stimme rief nur: „Zimmerservice! Ihr Champagner ist da, Frau Müller.“
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Anna Freud öffnete lächelnd und nahm dem Hoteldiener zwei Flaschen aus der Hand. „Ich bedanke mich recht herzlich.“ Dann bedeutete ihm, die Tür wieder zu schließen und schickte zum Abschied einen Winker hinterher. Sobald sich die Tür schloss, wurde ihr Gesicht wieder ernst.
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„Na, wenigstens hier haben wir noch was zu sagen, was? Wenn schon nicht Anna Freud, dann zumindest Gretchen Müller, die blonde arische Industriellentochter.“ Anna schnaubte.
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„Du weißt zwar nicht, wer Superman ist, aber mit Geheimidentitäten kennst du dich ganz gut aus“, merkte ich anerkennend an.
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„Leider ein Muss in diesen Zeiten“, gab sie zurück. „Aber du darfst mich gerne ‚Superfrau‘ nennen.“
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< Ende Folge 56 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Ehrlich gesagt war ich ganz froh, dass Annas Sarkasmus wieder erwacht war. Es schien, als hätte Sigmund Freuds Tochter all ihr neugewonnenes Wissen über die Gräuel des 20. Jahrhunderts in einem Tresor verschlossen und diesen Tresor in den hintersten Winkel ihres Geistes geräumt. Wahrscheinlich war es die einzige Möglichkeit, damit klar zu kommen.
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Eine schnippische Reisebegleiterin war mir auch 1000x lieber als eine, die in Schockstarre schweigt. Aber selbst das wäre besser gewesen, als wieder alleine durch diesen Alptraum zu stolpern. Obwohl ich zugeben musste – zum ersten Mal, seitdem ich von zuhause aufgebrochen war, spürte ich tatsächlich so etwas wie – Spaß? .
„So“, sagte sie und gähnte demonstrativ. „Lässt du mir jetzt ein wenig Privatsphäre? Ich möchte gerne schlafen.“
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„Meinst du nicht, dass wir zusammenbleiben sollten?“ warf ich ein. „In Filmen geht es nie gut aus, wenn Leute sich trennen und…“ .
Anna lächelte: „Wir befinden uns hier aber nicht in einem Film, sondern in der Rea…“
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Meine linke Augenbraue zog sich wie von selbst fragend nach oben. Anna sah es und seufzte: „Na gut, wir befinden uns hier vielleicht auch nur in DEINEM Traum. Oder in der xten Vorhölle. Oder in einem Paralleluniversum, das sich aber verdammt nach MEINER Realität anfühlt. Das reicht mir. Außerdem glauben alle in diesem Hotel, dass ich Gretchen Müller, Tochter des Großindustriellen – und hochrangigen NSDAP-Mitglieds – Herrmann Müller, bin.“
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Anna Freud legte mir eine Hand auf die Schulter: „Ich bin mir sicher, dass wir heute Nacht nichts zu befürchten haben. Komm, gönn mir ein bisschen Zeit für mich. Selbst eine erfahrene Psychotherapeutin wie ich braucht etwas Zeit, um all das zu verarbeiten, was ich heute erfahren habe.“
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Ich nickte.
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„Du kannst ja noch ein wenig runter in die Hotel-Bibliothek und etwas lesen…“
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„Hamlet vielleicht? Ich grinste.“
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Ganz genau!“ lachte sie, als ich in den Flur trat und die Tür hinter mir ins Schloss fiel. „Au revoir, mon voyageur du temps!“
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< Ende Folge 57 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Die Bibliothek des Adlon war ein Traum für Bücherliebhaber. Freilich, sie war weder an Buchbestand noch an Größe mit unserem Reiseziel, der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, vergleichbar. Aber ihre Auswahl an Romanen, Essays und Zeitungen war trotzdem beeindruckend.
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Mein Problem: Viele Bücher waren in Sütterlin verfasst, dieser seltsam krakeligen altdeutschen Schrift. Jedes S sah wie ein F aus – wer soll denn so etwas lesen!!??
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Wieder und wieder zog ich ein Buch, das dem Einband nach spannend klang, aus dem Regal, nur um es nach einer kurzen Inspektion wieder zurück zu stellen.
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„Ja ja, die WIRKLICH guten Bücher finden Sie leider nicht mehr hier.“ seufzte ein älterer Herr neben mir kryptisch.
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„Wie meinen?“ fragte ich.
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„Ach kommen Sie, Sie wissen schon: Kästner, Remarque, Tucholsky…“
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Jetzt aber Vorsicht, scholt ich mich. Dieser Mann konnte zu gut ein Spitzel der Nazis sein. Ein falsches Wort und ich hatte mich als Anhänger von ‚verfemtem Gedankengut‘ geoutet.
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„Diese Autoren kenne ich nicht, verzeihen Sie.“ Ich wandte mich wieder dem Buchregal zu.
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„Brecht, Mann, Marx!“ Der alte Mann ließ nicht locker.
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„Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie…“
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„Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele!“ Der Alte schrie jetzt fast.
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Ich schaute auf. Das hatte ich doch schon mal…
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„Ha! Ich wusste es doch! Ihren Freud kennen sie alle. Sigmund Freud, jaja! Ein kluges Köpfchen. Kapiert, was hier oben…“ Er tippte mit seinem Zeigefinger an seine Stirn. „Was hier oben alles so vor sich geht.“
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„Wie kommen Sie ausgerechnet jetzt auf Freud?“ Ich schaute ich dem Alten direkt in sein Gesicht – und erschrak: Er glich meinem alten Mathelehrer aus dem Gymnasium bis aufs Haar. < Ende Folge 58 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Verzeihen Sie“, fragte ich den Mann, der meinem Mathelehrer so ähnlich sah, „Aber kennen wir uns nicht?“
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„Wir sind uns noch nicht begegnet“, erwiderte er. Bildete ich es mir nur ein, oder hatte er das ’noch‘ besonders betont?
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Der Mann hieß Adolf. Adolf Sonntag. „Konnten meine Eltern ja nicht wissen“, sagte der Alte und lachte meckernd wie eine Ziege. „Momentan gibt’s viele von uns. Eine wahre Schwemme.“
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„Keine Sorge, der Trend flaut wieder ab“, erwiderte ich.
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„Wenn ich könnte, würde ich den Namen in die Tonne kloppen“, flüsterte der Alte. Den kriegste nicht mehr sauber. Nicht mal mit Persil.“
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Ich konnte mir einen kurzen Lacher nicht verkneifen. Nein, für einen Nazi hatte der zu guten Humor. Außerdem verriet mir mein Bauchgefühl, dass mir der Mann nichts Böses wollte. Aber das hatte es mir auch schon bei Benjamin Sachs geraten…
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„Also, gut – welches Buch würden SIE mir denn empfehlen?“
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„Ich glaube, dieses hier könnte Ihnen sehr nützen!“ Er griff in seine Jackeninnentasche und holte ein abgegriffenes Taschenbuch hervor. Als ich den Einband sah, lief es mir kalt den Rücken hinunter. Stilisierte Flammen züngelten über das Cover und weckten böse Erinnerungen an meine Träume, in denen die Welt regelmäßig von einer Feuersbrunst verschlungen wurde. Inmitten dieser Flammen sprang eine mit wenigen Strichen skizzierte Gestalt – ein Tier! – ein Wolf! – auf den Betrachter zu, das Maul aufgerissen, die Zähne gefletscht. Das konnte doch kein Zufall sein!
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„Jetzt reicht es! Keine Spielchen mehr“, sagte ich und blickte wieder hoch. „Wer sind Sie?“ Aber der alte Mann war plötzlich spurlos verschwunden.
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< Ende Folge 59 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Das konnte doch nicht sein! Vor wenigen Sekunden noch hatte der alte Mann – hatte Adolf Sonntag, wie er angeblich hieß – noch neben mir gestanden. Und jetzt war ein einfach fort – wie in Luft aufgelöst. Ich rannte von einer Ecke der Bibliothek zur anderen, suchte im Salon, im Foyer, schaute überall und hörte erst auf, als ich merkte, dass meine leicht verzweifelte Suche langsam die Aufmerksamkeit der übrigen Gäste auf sich zog.
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Das half nichts. Also setzte ich mich zurück an den Bibliothekstisch und blätterte das Taschenbuch auf. „Inferno“ stand in rotgedruckten Lettern auf der ersten Seite. Und: „Ein Auszug aus Dante Aligheris ‚Göttlicher Komödie‘.“
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Dante. Der Name sagte mir etwas. Italienischer Dichter, Mittelalter, irgendwas mit Hölle. Mhh. Hatte ich nicht mal eine Lustige-Taschenbuch-Adaption davon gelesen – mit Dagobert Duck als Dante?
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Egal, Anna würde sicher mehr wissen. Und nach dieser seltsamen Begegnung war mir auch nicht mehr wohl in der Haut, hier allein im Hotel herumzugeistern.
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Nachdem ich den dritten Stock erreicht hatte, klopfte ich dreimal lang und dreimal kurz an die Zimmertür. Das Zeichen hatten wir vorher zur Sicherheit verabredet. Keine Antwort.
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„Anna?“ rief ich vorsichtig und wiederholte das Klopfgeräusch. Wieder nichts. Verdammt. Sie musste wirklich tief schlafen. Nach drei weiteren Klopfern drehte ich Gedanken versunken den Türknauf. Die Tür sprang auf. Oh, oh! Das war kein gutes Zeichen. Das war überhaupt kein gutes Zeichen.
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„Anna?“ ich lief ins Zimmer – und fand das Bett leer vor. Anna Freud war weg.
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< Ende Folge 60 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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Sie haben sie! Meine Gedanken überschlugen sich. Irgendwie mussten mir meine Verfolger ins Jahr 1938 gefolgt sein! Hatte Benjamin Sachs irgendetwas damit zu tun? Ich schickte stille Stoßgebete zum Himmel, dass Anna nicht dasselbe Schicksal erlitten hatte wie die Bibliothekarin aus Wolfenbüttel und ihre Familie.
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„Verdammt nochmal!“ brüllte ich in den menschenleeren Raum. „Was soll das alles? Warum ich? Und warum werden alle Menschen, die mir helfen, dafür bestraft?“
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Niemand antwortete. Natürlich. Aber dann sah ich plötzlich das Stück Papier auf dem Nachtisch liegen. Jemand hatte etwas darauf gekritzelt. Ich griff hektisch danach und begann zu lesen.
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„Bitte verzeih mir! Aber nachdem ich erfahren habe, welche schrecklichen Dinge die nächsten Jahre geschehen werden, kann ich mit diesem Wissen einfach nicht mehr weiterleben ohne etwas zu tun. Wer weiß, vielleicht kann ich diesen Wahnsinn stoppen.“
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Oh mein Gott, Anna! Ich schluckte, dann las ich weiter.
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„Auch wenn ich scheitere, und die Zukunft doch in Stein gemeißelt ist, ich muss es zumindest versuchen. Danke dir für alles, mein Freund. The time is out of joint; O cursed spite! / That ever I was born to set it right!“
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Oh nein! Was hatte sie nur vor?
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< Ende Folge 61 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Naja. Eigentlich kann sich wohl jeder, der schon einmal eine Geschichte über Zeitreisen gelesen oder gesehen hat, denken, welchen Plan Sigmund Freuds Tochter verfolgte: Anna Freud wollte Adolf Hitler umbringen, bevor dieser den Zweiten Weltkrieg beginnen konnte. Und damit hoffentlich auch die Wannsee-Konferenz verhindern, bei der die Ermordung aller europäischen Juden beschlossen worden war. Nein, beschlossen werden wird, korrigierte ich mich. Aber Hitler war nun einmal Reichskanzler Deutschlands und damit der wohl am besten geschützte Mensch im Land. Wie wollte Anna das allein auf sich gestellt bewerkstelligen…?
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Mein Blick fiel auf die Steckdose im Hotelzimmer. Nach der Dauernutzung im Zug war der Akku meines Smartphones so leer gewesen, dass er einer dringenden Ladung bedurft hatte. Glücklicherweise hatten sich Steckdosen in den letzten 80 Jahren nicht wesentlich verändert. Mein Ladekabel aus dem 21. Jahrhundert, das ich immer in der Hosentasche mit mir führte, passte also ohne Probleme in die Dose unseres Hotelzimmer von 1938. Bevor ich nach unten in die Bibliothek gegangen war, hatte ich also schweren Herzens mein Telefon zum Aufladen angeschlossen.
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Und jetzt war es weg! Anna musste es mitgenommen haben. Zwar konnte sie hier in den 1930ern nicht auf das Internet zugreifen, wohl aber auf alle Informationen, die in meiner Offline-Enzyklopädie gespeichert waren. Das gab Sigmund Freuds Tochter einen unschlagbaren Vorteil gegenüber Hitler und seinen Leibwächtern: Anna Freud konnte jetzt in die Zukunft schaunen. Und wusste ganz genau, wann und wo sie zuschlagen musste.
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< Ende Folge 62 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Für einen kurzen Moment schoss mir der Gedanke durch den Kopf, einfach abzuhauen und mich allein in den nächsten Zug nach Wolfenbüttel zu setzen. Wenn Anna Freud es mit ganz Nazi-Deutschland aufnehmen wollte – bitte schön! Ich hatte meine eigene Mission zu erfüllen, mein eigenes Mysterium zu lösen. .
Und mir rannte die Zeit davon. Lange würde ich nicht mehr wach bleiben können, auch nicht mit Annas Hilfsmittelchen, und wer weiß, ob ich aus dem nächsten Traum noch lebend erwachen würde. Beim letzten Mal war es äußerst knapp gewesen. Wenn Sigmund Freud mich nicht rechtzeitig gerettet hätte…
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Aber da war ja noch diese Sache mit meinem Smartphone, das Anna mitgenommen hatte. Ich musste es unbedingt wiederhaben. Außerdem war es einfach schön gewesen, nicht mehr alleine unterwegs gewesen zu sein, eine Reisebegleitung zu haben, die meine verrückten Erlebnisse tatsächlich ernst nahm.
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Aber neben all den pragmatischen Gründen, die dafür sprachen, jetzt nicht auf eigene Faust loszuziehen, war es doch dieser eine, der schließlich den Ausschlag gab: Ich fühlte mich unglaublich schuldig. Schließlich hatte ich Anna vom Zweiten Weltkrieg erzählt, hatte ihr die Last des Wissens aufgebürdet. Wie hatte ich nur davon ausgehen können, dass sie diese Ereignisse einfach als unverrückbaren Fakt der Geschichte akzeptieren würde? Meine Güte, wenn ich 1938 gelebt hätte und wüsste, was passieren würde, ich hätte alles drangesetzt, es zu verhindern!
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Ich griff nach dem Ladekabel, stopfte es in den kleinen Koffer und rannte nach unten zurück in die Bibliothek. Dort wälzte ich mich durch die aktuellen Tageszeitungen, bis ich im „Völkischen Beobachter“ schließlich fündig wurde. Eine „triumphale Feier“ versprach das Nazi-Propaganda-Organ für den Abend am Reichstag anlässlich des Anschlusses Österreichs. „Hitler zurück von Wiener Heldenplatz“. .
Das war es! Ich war mir ganz sicher: Da würde es Anna Freud hingezogen haben. Wie ich sie allerdings inmitten all dieser Menschen finden sollte – nun, das war ein Problem für später. Erst einmal musste ich unbemerkt aus dem Adlon verschwinden.
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„Oh, Sie reisen schon ab, Herr… Adam?“ Der Mann am Empfang des Adlon blickte mich skeptisch an. Verdammt! Ich hatte gehofft, indem ich so täte, als sei es das Normalste von der Welt, einfach so kommentarlos durch den Haupteingang entschlüpfen zu können. .
„Natürlich nicht“, improvisierte ich. „Ich habe einen Geschäftstermin.“ Der Concierge blickte mit hochgezogener Augenbraue auf meinen Koffer. .
„Ein… sehr wichtiger Geschäftstermin. Wir müssen… viele Unterlagen durchgehen.“
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Der Concierge musterte mich von oben bis unten. „Ich nehme an, Fräulein Müller schläft noch?“ fragte er.
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„Ähh, ja. Ich wollte sie nicht unnötig wecken.“ Ich versuchte, selbstsicher zu klingen, war mir aber nicht sicher, dass es ausreichte, um die Skepsis des Hotelangestellten zu zerstreuen.
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„Das ist sehr… aufmerksam von ihnen. Die Dame braucht sicher ihren Schlaf… Wenn man bedenkt, dass sie das Hotel gestern noch so spät verlassen hat…“ Der Concierge blickte mir nun direkt ins Gesicht. „Ganz alleine zu so später Stunde… Während Sie in der Bibliothek gesessen haben…“
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„Ja, Sie wissen ja, wie das ist! Manchmal, wenn sie nicht einschlafen kann, geht Fräulein Müller gerne noch eine Runde spazieren. Und mir hat sie natürlich nicht Bescheid gegeben.“ Ich seufzte demonstrativ. „Nur einen Zettel hat sie hinterlassen. Aber wer will schon mit einer so bezaubernden Dame streiten…?“
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„Da bin ich aber froh, dass sie sicher zurückgekommen ist. Ich habe ihre Rückkehr nämlich gar nicht bemerkt. Und normalerweise entgeht mir nichts.“
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Ich schluckte. .
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„Nun, da müssen Sie wohl gerade auf der Toilette gewesen sein,“ stammelte ich und klopfte dem Concierge jovial auf die Schulter. „Tja, irgendwann müssen wir alle dem Ruf der Natur folgen, was?“
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„So ist das wohl“, erwiderte der Concierge mit ernster Miene. .
„Also“, sagte ich und setzte meinen Weg Richtung Ausgang fort. „Genug geplaudert. Ich muss los. Der Termin…“
. „Ja, es wäre doch sehr bedauerlich, wenn Sie Ihren Geschäftstermin wegen unserer kleinen Plauderei verpassen würden.“ Der Concierge lächelte mich an. Es war das falscheste Lächeln, das ich seit langem gesehen hatte. „Da bleibt mir nur, mir zu erlauben, Ihnen ein gutes Gelingen zu wünschen.“
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„Ja, genau. Danke!“ Ich ging zwei Schritte weiter und spürte, wie ein Schweißtropfen meine Stirn herunterlief.
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„Herr Adam!“ Verdammt! Was war denn jetzt noch? Ich drehte mich panisch um. .
„Heil Hitler“ brüllte er und riss seinen rechten Arm in die Höhe. Ich tat es ihm gleich. Der Concierge lächelte vielsagend. Dann stand ich endlich draußen auf der Straße. Mein Hemd war klitschnass geschwitzt. .
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„Zum Reichstag woll’n se? Na, da sind se ja der einzige!“ Der alte Schuster wieherte laut und zeigte mit dem Finger auf einen Pulk von Menschen mit rot-weissen Hakenkreuzflaggen. „Na, dann feiern se ma schön für mich mit.“
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„Äh, ja, werde ich.“ Ich wandte mich zum Gehen ab, aber der Alte hörte nicht auf zu reden. .
„Ich sach Ihnen, das war nur der Anfang. Der Adolf, der weiß wie’s geht. Da soll’n sich die Franzmänner und Polen mal schön in Acht nehmen. Na dann, Heil…“
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„…ige Scheiße!“ vervollständigte ich und ließ den Mann verdattert stehen. Es war mir einfach so herausgerutscht. Dieses Berlin und seine Bewohner gruselten mir. Irgendwie waren in meiner Vorstellung die allermeisten Deutschen zumindest innerlich nicht einverstanden mit Hitlers Rassenwahn gewesen, hatten aus Furcht vor Verfolgung geschwiegen oder aus Sorge um ihre Familien. Aber das Bild, das sich mir jetzt bot, war ein anderes: Überall Jubel auf der Straße und unbändiger Stolz. Die breite Bevölkerung schien ernsthaft happy, dass Deutschland nach dem „Anschluss“ Österreichs ein Stück größer geworden war. Und schienen wie trunken, hungrig auf mehr.
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Ich seufzte und folgte dem beflaggten, grölenden Pulk. Fröhlich gucken, erinnerte ich mich… Denk dran, heute ist ein schöner Tag…
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Und dann spürte ich plötzlich eine Hand an meinem Arm.
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„Jetzt zieh mal nich sonne Fluppe, is doch n schöner Tag, oder?“ Eine junge, blonde Frau hakte sich mir unter. „Komm, begleit mich doch n Stückchen! Du willst doch auch zur Krolloper!“
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Na, das war ja mal eine schöne Überraschung. .
„Äh, Krolloper? Nein, danke! Ich möchte zum Reichstag, den…“ Ich tat mich schwer, das Wort auszusprechen. „… den Führer sehen.“ .
Sie kicherte. „Ach Dummerchen, das will ich doch auch! Unser Führer spricht doch in der Oper.
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‚Unser Führer‘. Mit welcher Verehrung sie das ausgesprochen hatte. Da war ich ja an ein richtiges Hitler-Fangirl geraten. .
Die junge Frau, sie mochte gerade mal 20 sein, lächelte mich weiter an: „Der Reichstag ist doch immer noch…“
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„… abgebrannt!“ vervollständigte ich gern Satz. „Stimmt ja, seit 1933 schon!“ Jetzt erinnerte ich mich wieder. Geschichtsunterricht. Die Nazis hatten die Chance direkt genutzt, um ihre Macht noch weiter auszuweiten. Das sagte ich aber nicht, sondern: „Ähh, Irgendwie hatte ich gedacht, dass das Gebäude längst wieder instand gesetzt worden war.“
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„Nein, nein! Aber komm, wir müssen uns beeilen, um noch einen guten Platz zu bekommen.“ Sie zog mich weiter, der Masse hinterher. „Ach, was bin ich froh, dich getroffen zu haben, meine Schwestern wollten alle lieber zuhause bleiben.“
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Ach wirklich? Konnte ich ja gar nicht verstehen.
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„Also, ich bin die Ilse. sagte Ilse. „Ilse von Blitzen. Sehr sehr angenehm.“ Sie zog mich noch näher zu sich heran. „Und wir machen es uns heute so richtig schön.“
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Ich weiß nicht, wie ich mir vorgestellt hatte, in dieser Menschenmasse Anna Freud wiederzufinden. Ganz Berlin schien sich hier auf dem Platz vor der Krolloper eingefunden zu haben, um zumindest einen kurzen Blick auf ‚ihren Führer‘ zu erheischen. Zuletzt hatte ich so einen Menschenauflauf bei irgendeinem Youtuber-Event in irgendeinem Kaufhaus gesehen.
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„Wen suchst du denn?“ Ilse war es nicht entgangen, dass ich mich immer wieder umschaute. „Eine alte Freundin.“ Ich beschrieb ihr Annas Aussehen. Und merkte gleich, dass es sinnlos war.
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„Blonde Haare. Mittelgroß. Augenfarbe haste vergessen?“ Sie lachte laut. „Na, das könnte jede zweite Frau sein, die du hier siehst.“
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Ilse stand noch immer eingehakt neben mir. So unangenehm mir ihre Anwesenheit auch war: Ein besseres Cover konnte ich mir nicht ausdenken.
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Auf dem Weg hierhin hatte mir die Frau mit dem nationalsozialistischsten Namen ever von ihrem Vater, dem Arzt Udo von Blitzen erzählt, der einer alten Adelslinie entstammte und Ilse mit so viel Geld überhäufte, dass sie sich um die Nöte der Welt keine Sorgen machen musste. Erwartungsgemäß war er auch ein strammer Nazi.
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„König, Führer – Hauptsache einer sagt, wo’s langgeht, was?“ sagte ich ironisch, weil ich bemerkt hatte, dass Ilse Ironie so gar nicht verstand. Besser für mich.
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„Ach, mein Vater meint es nur gut“, sagte Ilse. „Manchmal allerdings“ – sie zwinkerte mir zu – „Brauche ich ein wenig Zerstreuung.“ Sie zwickte mir in den Arm. „Du hast heute Abend doch sicher noch Zeit für ein kleines Tänzchen, oder?“
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„Äh, ja. Na klar.“ Von wegen. Sobald es ging, würde ich mich von hier verdrücken. „Wohin willst…“ .
Dann ertönte plötzlich ein ohrenbetäubender Knall.
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Um uns herum brach die Hölle los. Menschen rannten in alle Richtungen auseinander, traten auf andere, die gestürzt waren. Überall auf dem Boden lagen Hakenkreuzflaggen, zertrampelt, zerrissen.
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Ilse und ich hatten es nur bis zum Rande des Platzes geschafft, was jetzt unser Glück war. Ich zerrte meine Begleiterin in einen Hauseingang, der uns vor dem tödlichen Geschubse und Gedrängle abschirmte, und drückte wie wild auf alle Klingeln gleichzeitig.
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„Ein Schuss“, hörte ich eine männliche Stimme aus der Menge rufen. „Jemand hat geschossen!“. Dann ein lauter Schmerzensschrei. Offenbar war der Mann gestürzt. Hoffentlich gelang es ihm, wieder aufzustehen, sonst…
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„Oh mein Gott, der Führer!“ Eine weitere Stimme schrie aus der Menge, noch panischer als die erste. „Der Führer ist getroffen.“
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In diesem Moment öffnete sich die Tür, eine Frau, Mittfünfzigerin, aschfahl, stand vor mir. „Kommen Sie rein, schnell, schnell! Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott!“
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Ilse und ich stürzten ins Innere, dann schloss die Frau die Tür wieder.
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„Was ist denn passiert?“ kreischte Ilse. Die Hausbewohnerin zitterte. „Ich habe alles vom Balkon aus gesehen. Da war eine Frau, mit platinblondem Haar. Sie hat dem Führer eine Rose geschenkt. Ganz schwarz war die. Und dann hat sie plötzlich eine Pistole gezogen.“
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Die Frau, offenbar ein ebenso großer Hitlerfan wie meine Begleitung, schluchzte. „Gott steh uns bei, sie hat wirklich geschossen. Sie hat den Führer erschlossen!“
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Ende Folge 68 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Das wissen wir doch noch gar nicht“, versuchte ich die zunehmend hysterische Frau zu beruhigen. „Vielleicht war es ja nur ein Streifschuss.“ Ich meine, in Sachen Attentate hatte dieser Typ einfach ein Wahnsinnsglück – zumindest in meiner Zeitlinie.
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„Aber da war überall Blut, ich hab’s genau gesehen.“ Rotz lief der Dame die Nase herunter.
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„Ich bin sicher, er bekommt die beste medizinische Versorgung, die möglich ist.“ Was für eine Szene: Die heulte doch tatsächlich, weil sie fürchtete, dass jemand Adolf Hitler umgebracht hatte.
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Von wegen ‚jemand‘, korrigierte ich mich innerlich. Ich wusste genau, wer dieser jemand war: Anna Freud, Tochter des berühmten Psychoanalytikers Sigmund Freud – und bis gestern noch meine Reisebegleitung nach Wolfenbüttel, um in der dortigen Bibliothek ein mittelalterliches Buch zu finden, das hoffentlich Antwort gibt auf meine seltsamen Träume, die vom Ende der Welt in einem flammenden Inferno künden.
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„Entschuldig, aber haben Sie zufällig auch gesehen, was mit der blonden Angreiferin passiert ist“, fragte ich, so beiläufig wie möglich.
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„Ich, ich weiß nicht.“ So langsam wurde ihr Schniefen weniger. „Irgendwelche Männer haben sich auf sie geworfen, aber dann ist auch schon Panik ausgebrochen und überall waren Menschen.“ Die Frau klang jetzt ganz hart. „Ich hoffe, sie haben sie sofort erschlossen. Das Weib verdient nichts anderes!“
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Das sah ich anders, beschloss meine Meinung in dieser Situation aber bei mir zu behalten. Irgendwie musste ich herausfinden, was mit Anna passiert war. Und mit meinem Smartphone, das sie mir gestohlen hatte. Nicht vorzustellen, was passieren würde, wenn den Wissenschaftlern der Nazis dieses Stück Technologie des 21. Jahrhunderts in die Hände fallen würde…
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Ende Folge 69 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Und plötzlich war es ganz still in der Wohnung. Da saßen wir am Tisch, drei Gestalten, die unterschiedlicher nicht sein konnten, und schwiegen uns an: die verwöhnte Adelstochter mit dem Nazinamen, die Mittfünfziger-Hausfrau in ihrem Kittel und ich, der Zeit-Traum-Reisende aus irgendeiner Zukunft, die immer weniger die dieser Zeitlinie zu sein schien. .
Denn in meiner Vergangenheit – da war ich mir trotz unzweifelhaft bestehender Wissenslücken in Sachen Geschichte sicher – hatte Sigmund Freuds Tochter kein Attentat auf Hitler verübt. Ob nun erfolgreich oder nicht.
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Die Mittfünfzigerin, Agnes hieß sie, hatte uns Kaffee eingegossen, schön verbrühter Filterkaffee war es, wie ihn meine Oma immer gemacht hatte. Morgens gekocht und dann stundenlang auf der Platte köcheln lassen.
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Agnes hatte den Volksempfänger angestellt. Und wir lauschten der blechernen Stimme des Reichssenders Berlin, die natürlich nur ein Thema kannte: das Attentat auf Adolf Hitler, Reichskanzler und Führer des deutschen Reiches.
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Mit markigen Parolen richtete er sich an das „deutsche Volk“, aber so markig waren sie, dass schnell klar wurde: Er wusste auch nicht mehr als wir. Überall in Deutschland und im Ausland mussten die Menschen jetzt so wie wir vor ihren Radiogeräten sitzen. Unfähig etwas anderes zu tun, weil alle wussten, dass die Information, die kommen würde, alles verändern konnte. Wie sehr das wirklich zutraf, das wusste wohl nur ich.
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Zugegeben, ich glaubte nicht an das Unmögliche. Schlägt die Zeit nicht in all diesen Zeitreisegeschichten den Leuten, die ihren unaufhörlichen Lauf verändern wollen, stets ein Schnippchen? Deswegen konnte ich es auch kaum fassen, als der Radiomoderator plötzlich mit grabesschwerer Stimme verkündete, dass Adolf Hitler, Führer des deutschen Volkes am späten Abend den Verletzungen eines infamen kommunistischen Attentats erlegen sei.
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<Ende Folge 70 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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Ilse schluchzte laut auf, Agnes rief nur noch „Oh Gott, oh Gott, oh Gott.“ Und ich war einfach nur perplex. Sie hatte es tatsächlich geschafft. Anna Freud hatte Hitler umgebracht. Der Klassiker unter den Zeitreisegeschichten war Wirklichkeit geworden. Quentin Tarantino hätte es sich nicht besser ausdenken können.
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Einen kurzen Moment befürchtete ich, dass ich mich jetzt einfach in Luft auflösen würde, weil ich in der veränderten Zeitlinie gar nicht geboren worden war. Doch nichts dergleichen geschah. Außerdem konnte ich mich noch genau an die Geschichte erinnern, wie sie vorher passiert war: 1939 Überfall auf Polen. Zweiter Weltkrieg. Hitlers Selbstmord 1945. Aber wie konnte ich mich an etwas erinnern, das gar nicht mehr passiert war? Das ergab doch alles keinen Sinn. .
So versunken war ich in Gedanken, dass ich fast die Stimme des Nachrichtensprechers überhört hätte: „… bekommen wir gerade eine neue Information. Die infame Mörderin unseres Führers wurde als Anna Freud identifiziert, Tochter des jüdischen Quacksalbers Sigmund Freud“, rasselte die Stimme aus dem Volksempfänger weiter. .
Mir stockte der Atem. Sie hatten Anna! Ich musste sie irgendwie da rausholen! Das war ich ihr…
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„Sie wurde noch an Ort und Stelle erschlossen.“
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Ende Folge 71 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Anna Freud musste gewusst haben, dass ihr Plan ein Himmelfahrtskommando war. Dass ein Attentat auf Adolf Hitler nur dann gelingen würde, wenn sie ihm so nahe kommt, dass ihr selbst kein Fluchtweg mehr bleibt. Vielleicht wollte sie ihm auch noch einmal in die Augen blicken, diesem Mann, der soviel Unheil über die Welt bringen sollte.
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Und es nun nicht mehr würde. Die Geschichte, wie ich sie kannte, existierte nicht mehr. Dank Anna. Aber würde die Abwesenheit dieses einen Mannes an der Spitze des Deutschen Reichs tatsächlich bedeuten, dass im Land nun ein Umdenken stattfinden würde?
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Die Reaktion der beiden Damen am Tisch sprach dagegen. Sowohl Agnes als auch Ilse, diese beiden gesellschaftlich so unterschiedlichen deutschen Frauen, wetterten im selben hasserfüllten Tonfall gegen „die Juden“, die das Attentat „natürlich von langer Hand“ geplant hätten. Und die es nun mit aller Härte zu bestrafen gelte.
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Mir fehlten die Worte. Was sollte ich auch sagen? Anna in dieser Runde zu verteidigen hätte mich nur unnötig verdächtig gemacht. Also entschuldigte ich mich für einen Moment, um die Toilette zu besuchen. Ich musste nachdenken.
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Ende Folge 72 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Seufzend ließ ich mich auf dem geschlossenen Klodeckel nieder. Was blieben mir jetzt noch für Optionen? Mein Smartphone war weg und höchstwahrscheinlich – unerreichbar für mich – in der Hand der Nazis. Sigmund Freud saß weit weg in Wien, wenn er nicht schon von der Geheimpolizei verhaftet worden war.
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Und es durfte wohl nicht mehr lange dauern, bis die Leute im Adlon eins und eins zusammengezählt hatten und Anna Freud als diejenige identifizierten, die unter falschem Namen mit einem unbekannten Mann bei ihnen eingecheckt hatte. Spätestens dann würde die Berliner Polizei auch nach mir, dem vermeintlichen Komplizen der Attentäterin, suchen. Ich war mir sicher, dass der argusäugige Concierge ein detailreiches Phantombild von mir liefern konnte.
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Auf die Hilfe der beiden Führerfans nebenan konnte ich ebenfalls nicht zählen. Für einen Moment überlegte ich sogar, auf Ilses Flirtversuche einzugehen, um zumindest für die Nacht ein Dach über den Kopf zu haben. Aber der Moment war schnell wieder vorbei.
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Ich war allein. Gestrandet in der Vergangenheit – oder in einem Traum, der verdammt viele Details über die Vergangenheit enthielt, die ich eigentlich gar nicht wissen konnte. Niemand wusste, woher ich kam… Niemand – bis auf… Eine Idee schoss durch meinen Kopf. Gut, sie war etwas weit her geholt, aber was blieb mir anderes übrig?
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Leise schlich ich mich aus der Klotür in den Flur, griff in die Tasche von Ilses Mantel, der an der Garderobe hing, und zog ihre Geldbörse hervor. Wie erwartet war sie prall gefüllt. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich schlecht, dachte dann aber wieder daran, mit welcher Inbrunst sie die Propaganda der Nazis nachgeplappert hatte. Das schlechte Gefühl verging sofort. Dann öffnete ich leise die Etagentür, stand wenige Minuten später auf der Straße und sprach den nächstbesten Passanten an: „Entschuldig, können Sie mir den Weg zum nächsten Fernsprechhäuschen verraten?“
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Ende Folge 73 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Fasse dich kurz! Nimm Rücksicht auf Wartende!“ An diese Forderung, die in roter Frakturschrift auf dem Emailleschild neben dem öffentlichen Fernsprecher prangte, hielt sich an diesem wahnsinnigen Tag niemand. Die Schlange vor dem Telefonhäuschen war ungefähr so lang, als würde Sven Marquardt den Einlass regeln.
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Aber es passierte ja auch nicht jeden Tag, dass die politische Führung des Landes einem Attentat zum Opfer fiel. Es bestand offenbar fernmündlicher Redebedarf im Deutschen Reich – und der zog sich quer durch alle Schichten, ganz egal ob arm oder reich.
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Hinzu kam, dass in dieser Zeit die Leute, hatten sie erst einmal Geld eingeworfen, so lange Ortsgespräche führen konnten, wie sie wollten. Es sollte noch bis 1980 dauern, bis die Deutsche Post diese erste „Telefonflatrate“ abschaffen würde. Erst ab 1980 musste man stetig Münznachschub in den gierigen Schlitz werfen. Schon seltsam, welche Sonderbarkeiten einem im Gedächtnis bleiben, während so viel Wichtigeres im Meer des Vergessens ertrinkt…
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In der Schlange vor mir spielten derweil ganz andere Dinge eine Rolle: Verschwörungstheorien! Manche Leute lasen das Attentat als eine direkte Reaktion österreichischer Separatisten, die sich dem Anschluss an Nazi-Deutschland widersetzen wollten. Manche waren der Meinung, Sigmund Freud habe seine Tochter vorgeschickt, um sich für die öffentliche Verbrennung seiner Bücher zu rächen. Die prominenteste Lesart ging aber so: Die Ermordung Hitlers sei nur erster Teil eines gesamtjüdischen Umsturzversuches, erst in ganz Europa und dann in der gesamten Welt die Macht zu übernehmen.
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Mir fröstelte es innerlich: Soviel Hass! So viele Vorurteile! Und so viel offene Bereitschaft, seinen niedersten Instinkten zu folgen.
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Ende Folge 74 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Haben Sie das Buch gelesen?“ Die erste Frage des alten Mannes, den ich in der Bibliothek des Adlon getroffen hatte, und der mich so an meinen ehemaligen Mathelehrer erinnert hatte, traf mich ziemlich unvorbereitet.
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„Äh, nein. Ich bin… noch nicht dazu gekommen“, antworte ich stotternd durch den Telefonhörer. Ich fühlte hektisch in meiner Jackentasche herum! Ja, da war es! Das Büchlein mit dem gruseligen Cover, das eine Szene aus meinen Träumen zeigte: Der Wolf, der aus einer höllischen Feuersbrunst direkt auf den Betrachter zuspringt.
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„Das hätte uns einiges an Problemen erspart“, grummelte Sonntag. „Aber über vergossene Milch soll man sich nicht ärgern. Sie brauchen ein Refugium, stimmt’s?“
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„Ja“, antwortete ich kurz und knapp. Alle weiteren Fragen mussten warten. Ich musste schnellstmöglich runter von der Straße.
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„Sie steigen jetzt sofort in die S-Bahn und beeilen sich!“ rief der Alte durch die Sprechmuschel. „Es hat schon begonnen!“
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„Was hat begonnen?“ fragte ich verwirrt.
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„Der Wahnsinn,“ sagte der Alte bedeutungsschwanger. Und legte auf.
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Ende Folge 75 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Der alte Mann hatte nicht übertrieben. Berlin stand in Flammen. Als hätten sie nur auf eine solche Gelegenheit gewartet, zogen Trupps von SA- und SS-Leuten offen marodierend durch die Straßen, ausgerüstet mit Stangen, Messern, Dolchen, Revolvern, Äxten, großen Hämmern und Brechstangen.
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„Rache für den Führer!“ brüllten sie, zerschlugen mit ihren Eisenstangen die Schaufenster jüdischer Läden und prügelten mit denselben Stangen oder rohen Fäusten auf die Inhaber der Geschäfte ein. Ich wollte mich abwenden, konnte es aber nicht: Sieh hin und erinnere dich, flüsterte Anna Freuds Stimme in meinem Kopf.
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Durch das S-Bahnfenster konnte ich Flammen ausmachen, die aus der Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße züngelten. Ein Mann in Polizeiuniform versuchte offenbar, das Schlimmste zu verhindern: Er stellte sich der tobenden Masse entgegen, wurde aber von ihr niedergetrampelt.
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Was mir besonders auffiel: Die Nazis versuchten gar nicht mehr, sich in Zivil zu kleiden, um den Anschein zu erwecken, es handele sich um einen spontanen Gewaltausbruch der Bevölkerung. Es war gar nicht nötig. Immer mehr Menschen in normaler Alltagskleidung schlossen sich dem Mob an, im Schein des Feuers flackerten ihre hasserfüllten Gesichter wie höllische Fratzen.
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Plötzlich flog ein Backstein direkt auf mich zu und krachte gegen die Scheibe meines S-Bahnwagons. Aber sie splitterte nur und zerbarst nicht. Ein Wunder, dass diese Bahn überhaupt noch fuhr!
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Als wir die nächste Haltestelle erreicht hatten, sah ich einen jungen Mann auf die Eingangstür zusprinten. Ein gelber Stern prangte auf seiner Jacke. Mit einem beherzten Sprung hätte er es fast geschafft, in den rettenden Wagon in Sicherheit zu springen. Aber ein Mann, der direkt an der Tür stand, schubste den Flüchtenden wieder heraus, so dass er zurück auf den Bahnsteig fiel. Wenige Sekunden später hatten seine Jäger ihn eingeholt.
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Ich stand schockiert daneben. Und sagte nichts.
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Nach einer halben Stunde Fahrt hatte meine Bahn den Stadtkern Berlins und den mörderischen Mob hinter sich gelassen. Aber die Erinnerung an die schrecklichen Szenen, die ich gerade miterleben musste, hatten sich tief in mein Gedächtnis gebrannt.
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Tief brannte auch die Scham, nichts gesagt zu haben, nicht eingegriffen zu haben. Gebracht hätte es sowieso nichts, versuchte ich meine Schuldgefühle zu besänftigen. Vernunft oder Mitgefühl zu zeigen – das wäre in dieser Nacht ein sicheres Todesurteil gewesen. Aber war ich nicht auch mitverantwortlich an alledem, was gerade in Berlin geschah? Ich hätte Anna niemals vom Zweiten Weltkrieg und vom Holocaust erzählen dürfen…
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Eine bleierne Stille lag über dem Bahnhof, der an den Grunewald grenzte. Keine Menschenseele war hier mehr unterwegs. Eine halbe Stunde Fußmarsch durch den Wald sollten es jetzt noch sein bis zu dem kleinen Häuschen, das Adolf Sonntag bewohnte. „Mein kleines Refugium“, hatte er es am Telefon genannt und mir den Weg genau beschrieben. .
Zu meinem Glück schien der Mond hell genug, um mich im Dunkel der Nacht nicht zu verirren. Da hinten war die Kreuzung, an der ich links abbiegen musste! Und da der Baumstamm mit dem eingeritzten Herz! W.B. + D.K. las ich und eine Jahreszahl: 1917. Wie es den beiden Liebenden wohl seitdem ergangen war?
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Da hörte ich plötzlich ein Geräusch im Unterholz. Wolfsgeheul.
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Ende Folge 77 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Wölfe? Are you fucking kidding me? Erst suchen mich die Biester in meinen Träumen heim und zerfleischen mich fast. Und dann folgen sie mir auch noch in die Vergangenheit?
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Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Sollten die Viecher doch kommen! Nach all dem, was ich gerade erlebt hatte, verspürte ich echt keine Lust mehr, wegzulaufen.
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„Na los! Hierher!“ schrie ich trotzig meine ganze Frustration in den Wald hinein. Es heulte zurück.
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„Na los! Kommt her!“ brüllte ich. „Wir regeln das jetzt hier!“
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Sogleich raschelte es im Unterholz neben mir. Und so schnell, wie meine Courage gekommen war, verließ sie mich auch wieder: Ich blickte auf meine geballten Fäuste und kam mir plötzlich äußerst lächerlich vor. Na, damit wirst du gegen ihre Zähne kaum bestehen…
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Im Gebüsch raschelte es wieder, jetzt noch näher. Ein Schatten löste sich aus dem Dunkel. Definitiv zu groß für einen Wolf. Menschlich. Und während ich noch darüber sinnierte, ob ich all den verrückten Begegnungen seit Beginn meines Abenteuers jetzt auch noch die mit einem Werwolf hinzufügen konnte, fiel ein Schimmer Mondlicht auf die Gestalt.
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„Ja, willst du uns denn alle ins Grab bringen?“ schimpfte Adolf Sonntag und zog mich am Arm in seine Richtung. „Los jetzt, beeil dich, Junge, das ist kein Spiel hier!“
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Ende Folge 78 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Ich folgte dem alten Mann wortlos, der ein beeindruckendes Tempo an den Tag legte.
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„Ich wusste gar nicht, dass es Wölfe im Grunewald gibt“, sagte ich keuchend.
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„Gibt es auch nicht“, erwiderte Adolf Sonntag mit energischer Stimme. Die Wölfe sahen es anders und heulten laut auf. Ganz nah waren sie jetzt.
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Nach ein paar Minuten öffnete sich das Unterholz zu einer kleinen Lichtung. Im Mondschein konnte ich die Umrisse eines Hauses ausmachen. Nun gut, Haus war vielleicht zu viel gesagt. Es handelte sich eher um eine Hütte, wie man sie aus Schrebergärtenkolonien kennt: ein Stockwerk, zusammengezimmert aus Holz, Wellblech und anderen Materialien, die sich der Häuslebauer von überall zusammengeklaubt hatte.
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„So, hier sind wir sicher!“ sagte mein Begleiter, als wir die Eingangstür erreicht hatten, und atmete tief aus. Ich verspürte nicht ganz so viel Vertrauen in die Stabilität dieser Hütte und tat dies Adolf Sonntag auch kund.
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„Keine Sorge, die Wölfe kommen hier nicht rein,“ antwortete Sonntag mit fester Stimme. Dann schloss er die Tür auf und schubste mich hinein.
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Mir fehlten die Worte: Das Innere dieser ‚Hütte‘ war mindestens zehn Mal so groß wie ihr Äußeres! Wie war das nur möglich?
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Ende Folge 79 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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Das Innere von Adolf Sonntags Hütte mutete an wie aus einem gemeinsamen Fiebertraum von Hieronymus Bosch und Friedensreich Hundertwasser entsprungen. Jeder Zentimeter des viel zu großen Innenraums war mit Holzschnitzereien bedeckt, allesamt bunt bemalt und verziert mit geschnitzten und gemalten Bildnissen von Fabelwesen, von Kindern, von Frauen mit Brüsten und Bärten, von glücklichen Familien, von erdachten und realen Orten, von Engeln und Heiligen, von Menschen, die gelebt hatten und solchen, die der Fantasie entsprungen waren, von Szenarien der Vergangenheit, der Gegenwart und der – Zukunft?
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Ich sah: Daenerys Targaryen eng im Kuss umschlungen mit Herbert Wehner. Bill und Ted in einer Shoppingmall mit Sigmund Freud. Adolf Hitler, Prinzessin Zelda und Fox Mulder gemeinsam schwitzend in der Sauna. Pikachu beim Poker mit Steven Hawking und Tony Stark. Indiana Jones, wie er den Hörer eines alten schnurgebundenen Telefons in die Lava des Schicksalsberges warf. Und ich sah mich selbst – als kleine, knorpelige Relieffigur geschnitzt – mit Anna Freud im Zugwaggon sitzend.
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Mir wurde ganz schwindelig.
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„Hier – trink erstmal einen Schluck.“ Sonntag reichte mir eine Tasse mit einer undefinierbaren Flüssigkeit. Kurz stutzte ich, dann trank ich ohne weitere Nachfrage aus.
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„War alles ein bisschen viel, oder?“ So verständnisvoll und väterlich war mir Sonntag bislang noch nicht begegnet. Ich gähnte laut und spürte, wie ich langsam das Bewusstsein verlor. „Was… war… in dem Getränk?“ keuchte ich. .
„Etwas, das dich endlich schlafen lässt“, sagte der Alte und führte mich zu einem Sofa, das Sigmund Freuds Couch verblüffend ähnlich sah.
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„Hab ich nur ausgeliehen. Er braucht es nicht mehr,“ sagte Sonntag. „Jetzt ruh dich etwas aus.“
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Mein Körper folgte, auch wenn mein Geist noch protestierte: „Aber die Träume… die Wölfe… das Feuer…“
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„Keine Sorge, du wirst traumlos schlafen“, beruhigte mich der Alte und zeigte auf meine nun leere Tasse. „Dafür habe ich gesorgt.“
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< Ende Folge 80 – alle Folgen auf @traumphon lesen >
Ich schlief 22 Stunden lang durch. Traumlos, wie Adolf Sonntag es mir versprochen hatte. Als ich meine Augen öffnete, hoffte ich für einen Moment, zurück in meinem Bett in meinem WG-Zimmer zu liegen und zu realisieren: Es war alles nur ein Traum.
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Doch auf das große Allheilmittel, auf das Drehbuchschreiber immer dann zurückgreifen, wenn ihnen ihre Geschichte außer Kontrolle gerät, wenn sie nicht mehr weiter wissen, wie sie den gordischen Knoten, zu dem sich der Plot ihrer Story verschwurbelt hat, wieder entwirren, konnte ich mich nicht verlassen. Dies hier war… echt! Das Sofa, auf dem ich lag. Die Schnitzereien an den Wänden. Und der Mann, der in dieser seltsamen Behausung lebte und mir jetzt einen frisch gebrühten Kaffee reichte: Adolf Sonntag.
. „Trinken Sie!“ sagte der Alte freundlich und kicherte. „Diesmal hilft es beim Aufwachen.“
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„Sie heißen nicht wirklich Adolf Sonntag, oder?“ fragte ich. .
„Doch,“ sagte er. „Im Moment heiße ich Adolf Sonntag.“ .
„Im Moment?“ Ich stutzte. In meinem Kopf formulierte sich eine unglaubliche Idee: Sind Sie etwa… DER Doktor?“ So lückenhaft mein Geschichtswissen auch war, so gut kannte ich mich in der Popkultur aus. „Dr. Who“ – britischer Science-Fiktion-Klassiker über einen zeitreisenden Timelord, der sich quer durch Zeit und Raum in die Geschicke des Universums im Allgemeinen und die der Menschheit im Speziellen einmischte.
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Es würde ja auch irgendwie passen: Dieses ganze timey-wimey-Zeugs, das mir passiert war. Seltsame technische Spielereien wie mein Smartphone, das Fotos aus meinen Träumen abspeichern konnte. Mein Zusammentreffen mit Persönlichkeiten der Zeitgeschichte. Und jetzt ein Ort, der von innen größer war als von außen. .
Der Alte lachte. „Jetzt geht aber die Fantasie mit Ihnen durch. ‚Dr. Who‘ ist eine Fernsehserie. Das hier ist…“
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„Real?“ vervollständigte ich seinen Satz. .
„So ähnlich.“ antwortete Sonntag ominös. Aber bevor Sie mich jetzt mit Fragen löchern, sollten Sie endlich das hier lesen. Er warf mir das Taschenbuch zu, das er mir in der Bibliothek des Hotels Adlon gegeben hatte. .
<Ende Folge 81>
Dafür, dass Dantes „Göttliche Komödie“ ein Klassiker der Weltliteratur war, las sich das Buch äußerst zäh. Naja, vielleicht lag es ja an der Übersetzung. Oder an der Tatsache, dass dieses Taschenbuch nur den ersten, depressivsten Teil der Geschichte beinhaltete.
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Dichterfürst Dante verirrt sich in einen finstren Wald mit grauenvollen Tieren (u.a. Wölfen!) und trifft auf den römischen Dichter Vergil. Dass der schon seit 1300 Jahren tot ist, kratzt Dante aber keineswegs. Er lässt sich sogar darauf ein, auf seinem Weg zum Berg der Tugend (ähem) eine Abkürzung durch die Hölle zu nehmen. Super Idee, Dante!
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Also steigen die beiden gemeinsam in die neun Kreise der Hölle hinab, einem Krater, den Satan bei seinem Sturz aus dem Himmel und dem anschließenden Einschlag auf der Erde hinterlassen hat. Je tiefer die Reisenden geraten, desto grauenvoller werden die Strafen, die die Sünder hier erwartet. Sagen wir nur soviel: In der Vorhölle werden die Sünder andauernd von Wespen und Hornissen gestochen. Im zweiten Höllenkreis müssen sie auf ewig durch einen See aus Kot waten. Im letzten Höllenkreis nagt Luzifer höchstpersönlich an den Köpfen der Verräter Judas, Cassius und Brutus herum, die im ewigen Eis festgefroren sind. Luzifers Genitalien machen bei Dante übrigens den genauen Mittelpunkt der Erde aus. Ich bin sicher, Sigmund und Anna hätten dazu so einiges zu sagen gehabt…
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Ende Folge 82 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Ich seufzte. „Ok. Wenn ich das richtig verstehe, bin ich Dante, Sie sind Vergil. Und all das hier ist… die Hölle?!“
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Der Alte lachte freudlos auf. „Ganz so einfach ist es nicht. Sie dürfen es nicht so wörtlich nehmen… Denken Sie allegorisch. Auch wenn sich diese Zeiten definitiv höllisch anfühlen.“
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„Mann, jetzt erklären Sie sich doch!“ sprudelte es aus mir heraus.
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„Das kann ich leider nicht“, sagte der Adolf Sonntag. Allein die Tatsache, dass ich Ihnen im Adlon dieses Buch gegeben habe, war schon gegen die Regeln. Geschweige denn die Tatsache, dass ich Ihnen jetzt Unterschlupf gewähre.“
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„Regeln? Welche Regeln denn bitte???“ Ich schrie nun fast. Wenn ich eins in den letzten Tagen festgestellt hatte, dann dass alle Regeln außer Kraft gesetzt worden waren. Die von Raum und Zeit. Und die der Vernunft erst recht.
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Der Alte atmete tief aus. „Wenn ich Ihnen das jetzt erkläre, riskiere ich, dass diese Geschichte falsch ausgeht. Sie dürfen es nicht wissen. Sie müssen es einfach… tun.“
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„Und doch haben Sie schon eingegriffen,“ konterte ich. „Und das nicht nur jetzt. Damals im Gymnasium – Sie WAREN wirklich mein Mathelehrer!“
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Adolf Sonntag nickte. „Für einen kurzen Moment, ja. Es gab ein… unvorhergesehener Ereignis. Ich musste eingreifen. Die Geschichte muss…“
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„… richtig ausgehen? Wer sagt das?“
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„Sie“, sagte der Alte. „Sie haben mir das gesagt. Beziehungsweise Sie werden es mir sagen.“
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Ende Folge 83 – alle Folgen nachlesen:
Und dann geschah es einfach: Irgendeine Synapse in meinem Gehirn brannte durch. Ich sprang auf, griff nach dem spitzen Schnitzmesser, das neben mir auf einem Tisch lag – und hielt es mir selbst an die Kehle.
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„Wissen Sie was? Ich habe genug von alldem. Träume, Zeitreisen, Hölle. Menschen, die sterben! Wegen MIR! Wenn Sie mir jetzt nicht sagen, was hier gespielt wird, dann… dann können Sie sich einen anderen Protagonisten für Ihre Geschichte suchen.“
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„Das geht nicht. Sie bluffen!“ Adolf Sonntag fixierte meinen Blick.
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„Wollen Sie’s riskieren?“ Ich drückte das Messer so fest an meinen Hals, dass ein Blutstropfen an ihm herunterlief.
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„NEIN!“ Der Alte schrie fast. „Hören Sie sofort auf! Sie dürfen noch nicht sterben!“
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„Na, das beruhigt mich aber ungemein,“ gab ich trocken zurück, beließ das Messer aber an Ort und Stelle.
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„Also: Was ist hier los?“ Natürlich hatte ich nicht wirklich vor, mich umzubringen. Aber ich hatte das Gefühl, wenn ich jetzt nicht alles auf eine Karte setzte, würde ich niemals Antworten bekommen.
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Der Alte sank kraftlos in seinem Sessel zusammen. „Nun gut. Ich werde Ihnen erklären, wie all das hier zusammenhängt.“
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< Ende Folge 84 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Sie werden mir zustimmen, wenn ich Ihnen sage, dass das Universum ein wunderlicher Ort ist.“
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„Auf jeden Fall.“
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„Aber bei allem Chaos, bei aller Entropie – es gibt Regeln. Geschichten, die wir erzählen, bleiben normalerweise Geschichten. Träume, die wir träumen, bleiben normalerweise Träume. Vergangenes bleibt normalerweise in der Vergangenheit und Zukünftiges normalerweise in der Zukunft.
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„Das klingt… logisch“, antworte ich. Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinaus wollte.
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„Das Problem ist das Wörtchen ’normalerweise‘,“ seufzte der Alte. „Es ist etwas passiert.“
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„‚Etwas‘ klingt jetzt ‚etwas‘ untertrieben“, warf ich ein.
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„Altklugheit steht Ihnen nicht“, sagte Adolf Sonntag. „Aber Sie haben ja recht. Jemand hat versucht, die Regeln zu ändern.“
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„Sie meinen Anna Freud? Weil Sie Hitler umgebracht hat?“
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„Nein, das musste in dieser Geschichte passieren, auch wenn es erst einmal unschöne Auswirkungen nach sich ziehen wird… Ich meine SIE. Sie haben… Sie werden versuchen, die Regeln zu ändern.“
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„Aber warum sollte ich? Das Universum kann mir ehrlich gesagt gestohlen bleiben. Ich hatte ein bequemes Studentenleben, nette Freunde….“
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„Sie hatten… Sie werden Ihre Gründe haben. Aber… das Universum mag es nicht, wenn sich jemand in seine Belange einmischt. Es wehrt sich. Und die Auswirkungen davon erleben Sie gerade.“
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< Ende Folge 85 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Das Universum wehrt sich?“ Was Adolf Sonntag mir da erzählte, klang – gelinde gesagt – ganz schön irre. „Mit einem Schwert und Fäusten, oder was?“ Ich lachte freudlos.
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„Es bevorzugt eine 9mm-Beretta,“ erwiderte der Alte.
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„Echt?“
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„Nein.“ Sonntag atmete tief ein. „Stellen Sie es sich vor wie eine Wunde. Dieses Universum, diese GESCHICHTE, wurde verletzt und jetzt bluten durch die Wunden Ereignisse und Personen durch, die zu ganz anderen Geschichten gehören.“
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„Realität mischt sich mit Fiktion, Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft und meine Träume dienen als eine Art Tor…?“ versuchte ich eine Interpretation. „Das würde erklären, warum mich Indiana Jones vor den Wölfen retten konnte, warum ich in der Realität geblutet habe, wenn ich im Traum gebissen wurde, wieso mich ein Wandschrank ins Jahr 1938 teleportieren konnte und warum die Grinsekatze…“
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„Sie denken noch zu vierdimensional,“ warf der Alte ein. „Es gibt nicht DIE REALITÄT und DIE FIKTION. Jede Geschichte hat ihre eigene Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Und jede Geschichte fühlt sich für all diejenigen, die in eben dieser Geschichte vorkommen, an wie die einzig wahre Realität. Und in jeder Geschichte träumen die Protagonisten dieser Geschichte ihre ganz eigenen Träume und schreiben ihre ganz eigenen Geschichten. Und aus diesen Geschichten entstehen wiederum neue Geschichten – wie bei einer dieser russischen Puppen, dieser Matrjoschkas. Nur dass es unendlich viele Matrjoschkas gibt mit unendlich vielen immer kleiner werdenden Versionen in ihrem Inneren.“
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Ich ließ das Messer sinken, mich zurück in den Sessel fallen und schaute Adolf Sonntag fragend an. „Ein Beispiel, bitte!“
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< Ende Folge 86 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Sonntag ging zu einem Buchregal und holte den ersten Harry-Potter-Band hervor. Ein Buch, das erst 60 Jahre später erscheinen würde! Aber mich wunderte gar nichts mehr.
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„Für Sie ist Ihre Welt echt, die ‚einzig wahre Realität‘. Harry Potter aber nur eine ausgedachte Figur in einem Roman“, führte der Alte seine Erklärung fort. „Für Harry Potter fühlt sich seine Welt – Hogwarts, die Existenz von Magie – aber genauso echt an wie für Sie Ihre. Die Geschichte von Beedle, dem Barden, ist für Potter dagegen ein ebenso fiktives Märchen wie Potters Geschichten für Sie.“
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„Entschuldigung“, warf ich ein.
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„Ja, was ist?“
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„Können wir uns nicht einfach duzen? Jetzt, wo wir praktisch Alternative-Realitäten-Buddies sind…“
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„Keine alternativen Realitäten!“ polterte Sonntag. “ Ja, haben Sie mir denn nicht zugehö… Ach, von mir aus!“ Er schnaubte und reichte mir die Hand. So ganz recht schien ihm das Duzen nicht zu sein, aber mir ging das ständige Gesieze mittlerweile gehörig auf den Keks.
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„Also, wo waren wir…?“ Der Alte kratzte sich an Kopf.
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„Beedle!“ rief ich. „Das Märchen von Beedle, dem Barden!“
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Ja, genau! Für Sie… für dich ist es eine Geschichte in einer Geschichte. Doppelt fiktiv sozusagen… Für Beedle aber nicht. Für ihn fühlt sich seine Welt genauso echt an wie für Harry Potter seine Welt und wie für dich deine…“
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„Du willst mir gerade weismachen, dass alle Geschichten, die in der Menschheitsgeschichte ausgedacht wurden und noch werden, ein Eigenleben entwickeln? Dass unsere Romanfiguren und TV-Figuren irgendwo da draußen wirklich leben, fühlen, trauern, lieben und aufs Klo gehen, wenn niemand guckt?“
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„Wirklich ist wirklich ein unpräzises Wort… aber vereinfacht gesagt: Ja… Schnaps?“ Sonntag hatte eine Jägermeisterflasche geöffnet und reichte sie mir. Ein ungeheures Bäuerchen später kam mir ein ebenso ungeheurer Gedanke.
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„Die Sache funktioniert auch in die andere Richtung, oder?“ spekulierte ich.
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Adolf Sonntag nickte mir sanft zu – wie ein Lehrer seinem Schüler, der gerade etwas sehr Elementares begriffen hatte.
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„Das heißt, dass ich genauso wie Harry Potter in einer Welt lebe, die sich jemand anderes ausgedacht hat? Jemand, der in seiner eigenen Welt – eine Matrjoschka-Ebene über meiner – lebt und eine Geschichte über mich schreibt?“
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Wieder ein Nicken. .
„Aber… was bleibt denn dann von meinem freien Willen übrig? Wenn die Fantasie eines Einzelnen MEIN Leben, MEIN Universum, MEINE Vergangenheit, MEINE Gegenwart, MEINE Zukunft und sogar MEINE Träume bestimmt?“
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„So vorherbestimmt ist es nicht“, sagte Sonntag. „Schreiben ist keine Einbahnstraße. Was glaubst du, woher Inspiration stammt? Wo Ideen herkommen? Und warum ein Autor manchmal das Gefühl hat, seine Figuren übernehmen die Handlung, drängen ihn dazu, eine Geschichte so und nicht anders zu schreiben.“
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„Der Autor beeinflusst mich, aber ich kann auch den Autoren beeinflussen?“ So langsam machte es Klick. „Und genau DAS habe ich getan! Oder … werde ich tun! Ich werde in diese, in MEINE EIGENE Geschichte eingreifen. Und versuchen, die Vergangenheit MEINER Geschichte zu ändern. Wie ein Autor, der an eine frühere Stelle seines Romans zurückgeht, um die Regeln so zu ändern, dass sie zu einer neuen, verbesserten Version seiner Geschichte passen.“
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„Ja, nur dass du eben nicht DER AUTOR der Geschichte bist, sondern nur EIN PROTAGONIST.“
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Ich stutze. „Und das ist schlimm?“
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Adolf Sonntag griff zum Jägermeister und trank die halb volle Flasche in einem Zug leer. Oh. Oh.
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< Ende Folge 88 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Häh, das versteh ich jetzt nicht“, warf ich, ehrlich verwirrt, ein. „Ich dachte, ich könnte sehr wohl den Verlauf meiner Geschichte beeinflussen, mein Schicksal, wenn wir es pathetisch ausdrücken. Irgendwie… wenn ich es nur stark genug will… oder so ähnlich.“
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„Ja“, bestätigte Adolf Sonntag. „Aber das ging nur so lange, bis deine Geschichte fertig geschrieben war und in den Bücherregalen lag. Aber du – bzw. dein zukünftiges Ich – wollte das nicht akzeptieren. Und dann hast du es nach unzähligen vergeblichen Versuchen doch noch geschafft, deine Geschichte zu verändern.“
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„Und jetzt ist dieser ‚Autor‘ ziemlich sauer, weil ich seine schöne Geschichte durcheinander gebracht habe und nichts mehr so abläuft, wie es seiner Meinung nach sollte?“ Ich war plötzlich ziemlich stolz auf mein zukünftiges Ich.
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Sonntag schaute mich ernst an: „Dir war überhaupt nicht klar, mit welchen Mächten du da gespielt hast. So wie die ersten Forscher, die die Atomspaltung entdeckten und allesamt an den Folgen der unsichtbaren Radioaktivität starten.“
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„Das heißt, durch mein Eingreifen ist der ‚richtige Verlauf‘ meiner Geschichte in Gefahr geraten?“ fragte ich. „Der, wie ihn sich der Autor ursprünglich ausgedacht hat?“
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„Wenn es nur das wäre!“ Adolf Sonntag riss beide Arme in die Höhe. „Was du gemacht hast, ist noch niemals irgendwem gelungen.“
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„Klingt eigentlich ganz gut“, erwiderte ich.
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„Ja, eigentlich“, sagte Sonntag. „Wenn du bei deinem Versuch nicht wie ein Elefant im Porzellanladen die Grenzen eingerissen hättest, die alle Geschichten, die jemals existiert haben und existieren werden, voneinander trennen.“
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„Wird die Welt halt ein bisschen phantasievoller“, gab ich zurück. „Ich bin mir sicher, einige meiner Studienkollegen würden sich sehr freuen, die echte Mother of Dragons daten zu können.“
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„Dann sollten sie sich beeilen,“ sagte Sonntag mit Grabesstimme. „Denn in Kürze wird alles zusammenbrechen. Uns droht das Ende aller Geschichten, die es jemals gab und geben wird. Das Ende aller Geschichten überhaupt!“
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< Ende Folge 88 >
„Das Ende aller Geschichten überhaupt?“ Ich sah ungläubig zu Adolf Sonntag hinüber. „Das klingt… nicht so gut.“
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„Untertreibung des Jahrtausends“, schnaubte der Alte. Sein Kopf war vor Erregung ganz rot geworden.
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„Und ich bin schuld?“ murmelte ich in meinen nichtexistenten Bart. „Da hab ich ja ganz schöne Scheiße gebaut.“
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„Bedank dich bei deinem zukünftigen Selbst“, antworte Sonntag
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„Werde ich machen, wenn ich alt genug bin“, erwiderte ich. „Oder mein zukünftiges Ich irgendwo treffe. Oder implodiert das Raumzeitkontinuum dann auch?“
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„Mitnichten“, sagte Sonntag und für einen kurzen Moment huschte ein verschmitztes Lächeln über sein rotes Gesicht. „Doc Brown hat Marty damals nur verarscht.“
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„Müssen wir also nur noch das Ende von Allem und dem ganzen Rest verhindern.“ Mein Modus von Schock zu Galgenhumor gewechselt. Fühlte sich deutlich angenehmer an. „Aber eine Sache verstehe ich immer noch nicht: Welche Rolle spielst DU in dieser Geschichte? Warum weißt du all das über mich? Warum ist es dir verboten, in diese Geschichte einzugreifen? Und warum weißt du, wie sie eigentlich ausgehen sollte?“
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„Nun“, sagte Adolf Sonntag. „Eigentlich ist die Sache ganz einfach: Ich bin…“ Er machte eine theatralische Pause… „… der allwissende Erzähler deiner Geschichte!“
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< Ende Folge 89 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Der ‚allwissende Erzähler‘?“ Ich stutzte. „Also bist du der Autor dieser… MEINER Geschichte!“
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„Nein, nein!“ widersprach Adolf Sonntag. „Ja, hast du denn in der Schule nicht aufgepasst?“.
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„Selten“, gab ich zu. „Aber müsstest du das nicht wissen?“
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Der Alte seufzte. „Der Autor und der allwissende oder auktoriale Erzähler sind eben nicht ein- und dieselbe Person. Er befindet sich im Normalfall außerhalb der erzählten Wirklichkeit, kann aber in Ausnahmefällen auch in die Geschichte eingreifen. So wie bei… Bibi Blocksberg und Benjamin Blümchen.“
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„Häh?“ Ich erinnerte mich vage an einen sprechenden Elefanten und an eine junge Hexe, die ihren kleinen Bruder an die Nordsee gehext hatte.
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„Beide Hörspielserien wurden von einer Frau erfunden und geschrieben, Elfie Donnelly“, führte Sonntag aus. „Der Erzähler der Geschichte ist aber eindeutig jemand anderes, schon erkennbar an seiner männlichen Stimme.“
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„Na gut, wenn du der allwissende Erzähler meiner Geschichte bist, dann erzähl mir doch einfach, was ich machen soll, damit wir hier alle lebendig rauskommen.“
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Sonntag stöhnte. „So einfach…“
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„… ist das nicht,“ vervollständigte ich. Warum hatte ich diese Antwort bereits erwartet?
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< Ende Folge 90 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Also: Wenn man es genau nimmt, WAR ich der allwissende Erzähler deiner URSPRÜNGLICHEN Geschichte“, führte der Alte fort. „Aber indem du die komplett durcheinander gewirbelt hast, weiß ich genauso wenig wie du, was zu tun ist, um das-Ende-aller-Geschichten-überhaupt abzuwehren. Wir befinden uns in einer neuen Geschichte, in der sich die Erzählperspektive gewandelt hat. Ich bin plötzlich ein Protagonist geworden und du der Ich-Erzähler.“
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„Aber kannst du mir nicht einfach verraten, was in der ursprünglichen Geschichte passiert ist?“ warf ich ein. „Das würde mir doch sicher helfen.“
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„Das versuche ich doch gerade, Geduld, Geduld!“ antwortete der Alte – oder sollte ich besser sagen: der alte allwissende Erzähler. „Ich habe ja sogar versucht, dagegen zu steuern, als deine ursprüngliche Geschichte aus den Fugen geriet. Deswegen war ich dein Mathelehrer, deswegen bin ich dir in verschiedenen Momenten in deinem Leben immer wieder begegnet und kam dir so bekannt vor. Aber sobald ein allwissender Erzähler in eine Geschichte aktiv eingreift und versucht, den Plot gegen den Willen des Autoren zu ändern, vergisst er automatisch die Teile der Geschichte, die dazu nötig wären. Eine Art Selbstschutzmechanismus der Geschichte, um ihre Integrität zu bewahren.“
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„Und ich dachte, die Sache mit den verschiedenen ineinander verschachtelten Geschichtsebenen wäre kompliziert“, stöhnte ich. „Also, was machen wir jetzt?“ .
Der alte Erzähler räusperte sich. „Zunächst einmal musst du zurück nach…“
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In diesem Moment erschien ein großes Radiergummi auf der Bildfläche und radierte den alten allwissenden Erzähler und seine Hütte aus meiner Geschichte. Einen Augenblick später stand ich allein auf der nun leeren Lichtung im Wald.
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< Ende Folge 91 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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Ich rieb meine Augen. War das gerade wirklich passiert? Hatte gerade wirklich ein riesiges Radiergummi einen Menschen vor meinen Augen wegradiert? Einfach so aus dieser Geschichte gelöscht? Und seine seltsame Behausung gleich mit dazu? Gerade in dem Moment, als er mir sagen wollte, wie ich meine Reise fortsetzen sollte?
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„Das nennt man dann wohl Diabolus-ex-machina“, stöhnte ich frustriert, aber niemand antwortete. Da stand ich nun ganz allein auf einer Lichtung im Berliner Grunewald und wunderte mich irgendwie so gar nicht mehr. DAS passiert also, wenn sich ein allwissender Erzähler nicht an die Regeln hält.
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„Hey, du, Autor!“ brüllte ich Richtung Himmel. Ein Versuch war’s wert. „Ja genau, du mit dem Radiergummi! Tut mir echt leid, dass ich in deine Geschichte reingepfuscht hab… oder werde! Ich werd’s nie wieder tun! Sind wir wieder Freunde?“ Ich kam mir unendlich doof vor. „Du darfst meine Geschichte auch wieder so schreiben, wie du immer wolltest! Oder verbessern! Wie du willst! Aber kann ich jetzt bitte einfach nur wieder nach Hause?“
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Von meiner lauten Stimme aufgeschreckt sprang ein Hase aus dem Unterholz und schoss hakenschlagend davon. Sonst geschah nichts: Keine donnernde Stimme aus den Wolken, keine Regieanweisung aus dem Off. Ich war alleine.
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‚Du musst zurück nach…‘ hatte der Ex-Allwissende-Erzähler Adolf Sonntag gesagt. Hätte das blöde Ratzefummel nicht eine Sekunde später mit seiner Löschaktion loslegen können? Zurück nach wohin? Nach einer Weile fasste ich eine Entscheidung: Ich würde versuchen, mich irgendwie nach Wolfenbüttel durchzuschlagen. Es würde nicht leicht werden, jetzt wo ich wahrscheinlich vom ganzen Land gesucht werden würde – als angeblicher Komplize von Anna Freud, die Adolf Hitler erschossen hatte. Aber was für eine Wahl blieb mir überhaupt?
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Gerade als ich mich auf den Weg machen wollte, schoss mir plötzlich eine Beobachtung durch den Kopf, die ich bisher komplett ausgeblendet hatte: Das Fell des Hasen – es war komplett pink gewesen!
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< Ende Folge 92 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Irgendwie fand ich zurück zum Bahnhof, auch wenn mein Weg durch den Wald deutlich länger dauerte als noch vor zwei Tagen. Unglaublich! Waren wirklich erst zwei Tage vergangen, seitdem Anna Freud Hitler umgebracht hatte und ich in den Grunewald geflohen war? Gefühlt war mindestens eine Woche verstrichen. Aber warum sollte ich mich nach all diesem Irrsinn auch noch auf den korrekten Ablauf von Tag und Nacht verlassen können?
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Zunächst aber gab es ein anderes Problem zu lösen: Das Bahnhofsgebäude glich einem Trümmerfeld. Das Dach war eingestürzt, das Glas komplett aus den Fenstern herausgeschlagen und in den Wänden klafften zahlreiche Löcher. Hatten die Ausschreitungen der Nazis wohl doch noch den Grunewald erreicht…
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Mit wenig Hoffnung, dass von hier in naher Zukunft noch ein Zug fahren würde, setzte ich mich auf den Bahnsteig und ließ meine Füße baumeln. Was für eine absonderliche Situation! Da hatte ich gerade Unglaubliches über meinen Platz in der Welt und das Wesen unserer Existenz erfahren, hatte mit eigenen Augen gesehen, wie brüchig die Wände sind, die meine Welt – meine Geschichte, wie Adolf Sonntag sagen würde – von unzähligen anderen trennen… Und jetzt saß ich hier herum und wartete auf eine S-Bahn, die wohl niemals kommen würde.
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So muss sich Godot gefühlt haben, dachte ich, als nach einer Stunde noch immer kein Anzeichen von Bewegung auf den Schienen zu sehen war. Auf den Schienen, die… Moment einmal! Warum war mir das erst jetzt aufgefallen?
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Die Gleise waren ja gar nicht mehr zu sehen, so hoch wuchs das Grass zwischen ihnen mittlerweile in die Höhe! Kein Zweifel – über diese Gleise war garantiert vor zwei Tagen kein Zug mehr gefahren… Wo war ich nur jetzt schon wieder gelandet? Oder sollte ich besser fragen: wann?
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< Ende Folge 93 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Eine unglaubliche Müdigkeit überkam mich. Was hatte das denn alles noch für einen Sinn? Wenn Adolf Sonntag – der allwissende Erzähler – recht hatte, dann gab es doch sowieso unzählbar viele Geschichten mit unzählbar vielen Parallelwelten, in denen jedes denkbare Szenario auch passieren konnte. Wenn im Endeffekt alles möglich war, war dann nicht auch alles egal?
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Warum also sollte ich nicht einfach hier sitzen bleiben und warten, bis alles zusammenkracht? Bis alle Geschichten, Welten und Universen, alle Zeiten und Träume ineinander bluten und in einem riesigen negativen Urknall im Nichts verpuffen?
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Ich dachte an Anna Freud und ihr sinnloses Opfer. In dieser Geschichte war Hitler 1938 umgebracht worden, aber in so vielen anderen würde er leben. In manchen würde er vielleicht niemals ‚der Führer‘ werden, sondern sein Leben als mittelmäßig erfolgreicher Maler fristen. In anderen vielleicht sogar den Zweiten Weltkrieg gewinnen und als Diktator über den Globus herrschen.
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Aber obwohl ich all das wusste, spürte ich doch eine tiefe Trauer über Anna Freuds Tod. Und das, obwohl ich ganz genau wusste, dass sie in einer anderen Version der Geschichte weiter leben würde. In dieser aber war sie gestorben, hatte sich geopfert, in dem Versuch, ihre Welt vor unglaublichem Unrecht zu bewahren.
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Ihr Opfer war eben nicht sinnlos gewesen, es hatte Konsequenzen für all jene Menschen, die in dieser Geschichte lebten, die sie gekannt und geliebt hatten. Ich sah Sigmund Freuds Gesicht vor mir, stellte mir vor, wie es gewesen sein musste, als er vom Tod seiner Tochter erfahren hatte. Wie er, der doch stets um eine kontrollierte Fassade bemüht war, zusammengebrochen sein muss, weinend, den Verlust seines geliebten Kindes betrauernd und doch auf eine Art Stolz auf ihren Mut und ihre Tat.
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Wenn nun aber alle Geschichten ineinander fließen würden, wenn Träume und Wünsche nach Belieben Realität werden konnten, dann würde wirklich keine Entscheidung mehr Konsequenzen haben, kein Gefühl mehr zählen. Alles wäre geschehen und nichts wäre geschehen.
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Das durfte nicht geschehen. Ich atmete tief ein, sprang auf die Gleise und lief los, Richtung Berliner Innenstadt. <Ende Folge 94 #traumphon>
Ich kam nicht weit. Vor fünf Minuten erst war ich vom Bahnhof losgelaufen, als ich plötzlich ein seltsames, surrendes Geräusch bemerkte. Ich blickte in den Himmel und sah aus der Ferne einen funkelnden Punkt immer näher kommen. War es ein Vogel? Ein Flugzeug?
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Auf jeden Fall war etwas etwas künstliches, metallisches. Aber für ein Flugzeug fehlten dem kapselartigen Ding die Flügel, für einen Helikopter die Rotorblätter. Trotzdem navigierte es ohne sichtbare Probleme durch die Luft – und steuerte direkt auf mich zu.
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Ich sprang von den Gleisen und rannte auf den naheliegenden Wald zu. Was das Ding auch war, ich hatte nicht das Gefühl, dass es mir wohlgesonnen war. Im Dickicht würde ich es vielleicht abschütteln können.
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Das Surren kam immer näher. Wuschhhhhhh! Etwas sehr Heißes brauste viel zu nah an meinem Ohr vorbei. Das Ding hatte doch tatsächlich auf mich geschossen! Mir fiel der blaue Hase wieder ein – da kam mir eine Idee: Anstatt in direkter Linie den Wald anzusteuern, begann ich nun Haken zu schlagen, um meinem Verfolger das Zielen zu erschweren. Ganz nah war ich dem Waldrand nun, nur noch fünf Meter, vier, drei…
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Au! Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen linken Fuß, der sofort taub wurde und mich mitten im Laufen stolpern ließ. Verdammt! Getroffen! Wie in Zeitlupe sah ich den Boden auf mein Gesicht zurasen. Dann wurde alles schwarz.
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< Ende Folge 95 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Mensch, der Typ hat mehr Glück als Verstand gehabt! Schau dir mal diese Werte an!“
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„400 Prozent über dem Level. Aber kein Wunder, spaziert der einfach ohne Schutzschild durch die Hot Zone!“
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„Diese ‚Historic Explorers‘ haben echt nen Hau! Labern immer davon, auf ihren Trips ‚aus der Geschichte‘ lernen zu wollen, aber am Ende geht’s doch nur um den Nervenkitzel.“
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„Und wir dürfen die Scheiße ausbaden, wenn wieder einer vergisst, seinen Schild aufzuladen.“
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„Aber der hier hat ja nicht mal einen angehabt. Was meinste? N Selbstengel?“
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„So wie der gerannt ist, kam der mir nicht wie einer vor, der sich selbst umbringen will…“
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„Nö, der is gerannt als ging’s um sein Leben.“
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„Auf jeden Fall um seinen Geldsack. Unerlaubtes Eindringen in historisches Sperrgebiet. DAS wird teuer!“
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„Kleiner Preis dafür, dass er jetzt nicht mit verschrumpelten Organen nach Hause kommt.“
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„Oder drei Ohren.“
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„Oder grüner Haut.“
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„Oder einem Schwanz.“
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„Pssst… leise! Pass auf, ich glaub der wacht gerade auf…“
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< Ende Folge 96 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Ein Schwanz? Ich… ich… will keinen Schwanz.“ Benommen öffnete ich die Augen. Von oben blickten zwei Gesichter auf mich herab. Wo war ich?
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„Keine Sorge“, sagte der eine und drückte meinen Oberkörper sanft zurück nach unten. Er hatte grüne, kurzgeschorene Haare und trug ein pinkfarbenes Stirnband. Auf seiner Brust prangte ein Abzeichen, ein rotes Kreuz auf einem silbernen Schild. „Keine Sorge, wir haben dich noch rechtzeitig erwischt.“
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„Rechtzeitig? Ich verstehe nicht…“ Ich hustete.
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„Ja, was hast du dir denn auch dabei gedacht, ohne Schutzschild da unten rumzuspazieren?“ Der andere Mann, seine Haare waren pink und auf der linken Seite komplett abrasiert, reichte mir ein Glas Wasser. „Das ist doch lebensmüde bei den Strahlenwerten.“
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„Strahlen? Ich verstehe nicht… ich muss zurück nach Berlin, ich muss zum Zug,“ keuchte ich und wollte mich wieder aufsetzen. „Die Geschichte…“
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Die Hand des Grünschopfes hielt mich – nun etwas bestimmter – fest in Liegeposition.
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„Immer mal langsam mit den jungen Dromedaren“, sagte er. „Du bist noch viel zu schwach, um aufzustehen. Und was Berlin angeht…“ Er lachte freudlos. „Von Berlin fährt schon lange kein Zug mehr.“
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< Ende Folge 97 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Wie? Es fährt…kein Zug… mehr… von Berlin? Halten… die Ausschreitungen… denn noch immer… an?“ stammelte ich, noch immer benommen von der Betäubung. .
„Ausschreitungen? Welche Ausschreitungen denn?“ fragte der Mann mit den kurzen grünen Haaren zurück.
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„Na, die nach dem Attentat auf Hitler!“ rief ich.
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Die beiden Männer lachten laut und sehr lange. .
„Was gibt es da bitte zu lachen?“ giftete ich zurück. .
Der Mann mit den pinkfarbenen Haaren wischte sich eine Lachträne aus dem Gesicht: „Für einen Historic Explorer hast du echt wenig Knowledge von Geschichte.“
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„Historic… was?“ Ich musterte die beiden Typen genauer. Ihre Haarfarbe war ja schon seltsam, aber ihre Augen schossen den Vogel ab. Sie waren grellgelb! .
„Na, die irren People, die durch die Ruinen von Berlin stöbern und irgendwelche Dinge suchen und aufbewahren wollen.“ Er klopfte mit seinem linken Zeigefinger dreimal an die Stirn und setzte im abschätzigen Ton nach: „‚Aus der Geschichte lernen‘ – was für eine doofus Idee!“
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„Genau!“ stimmte ihm der Mann mit den grünen Haaren zu. „Allein die Zukunft zählt!“
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„Allein die Zukunft zählt“, wiederholte Pink den Satz mantraartig und klopfte sich dabei mit der Faust auf sein Herz.
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„Ja… ähhh… dann sind wir ja alle auf derselben Seite“, improvisierte ich. „Ich will auch, dass die Zukunft… ähh… weiterbesteht.“ Und die Gegenwart, und die Vergangenheit, ergänzte ich still.
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„Löblich“, antwortete Grün. „Wird dich aber nicht vor der Befragung bewahren!“
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„Der Befragung?“ fragte ich zurück. „Durch euch?“
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Die beiden prusteten wieder los. .
„Nee“, sagte Pink. „Durch den Officer der Paneuropäischen Schutzzonenpatrouille natürlich.“
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< Ende Folge 98 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Paneuropäische Schutzzonenpatrouille? Das klingt… besorgniserregend“, sagte ich.
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„Besorgniserregend für deinen Geldsack auf alle Fälle“, rief Grün lachend. „Kannst dich auf ne mächtige Strafe einstellen.“
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„Und ihr gehört nicht zu dieser…“ – Ich zog das Wort in die Länge – „… Paneuropäischen Schutzzonenpatrouille?“
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„Doch“, sagte Pink. „Aber wir sind ’nur‘ die Sanis. Die dich übrigens vor irreversiblen Strahlenschäden bewahrt haben. Und nein, wir erwarten keinen Dank.“
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„Keinen Dank“, bestätigte Grün.
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„Aber da hinten steht unser Spendenschwein, das freut sich auf Futter!“ ergänzte Pink.
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Tatsächlich, auf einem Schrank, der aussah als wäre er direkt aus Dr. McCoys Krankenstation auf der Enterprise gebeamt worden, stand ein pinkfarbenes, unglaublich kitschiges Porzellanschwein mit der Aufschrift „Schwein gehabt!“.
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Etwas verlegen suchte ich in meinen Hosentaschen herum und fand – ganz unten – tatsächlich noch ein paar Münzen. Ich reichte sie Pink, der mich jetzt aufstehen ließ. Er begutachtete sie skeptisch – und lachte: „Münzen? Ha! Bist ja doch n Historic Explorer, wusst ich’s doch!“
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„Was meinst du jetzt damit?“ gab ich, mittlerweile leicht angefressen, zurück.
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„Na, mit Münzen wird doch schon seit 20 Jahren nicht mehr gezahlt!“ sagte er und hielt sein Armband demonstrativ an die Schnauze des Schweins, das daraufhin ein erst ein lautes Rülpsgeräusch von sich gab und dann mit grunzender Stimme sagte: „Danke für Ihre Spende.“
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Na super. Erst ein Sprung in die Vergangenheit und jetzt in die Zukunft… Eine Zukunft mit rülpsenden Sparschweinen… „Okay… Wenn es seit 20 Jahren kein Bargeld mehr gibt, verratet mir doch bitte, welches Jahr wir heute haben?“
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Grün starrte mich verständnislos an. „Vielleicht hast du doch n bisschen zuviel Strahlung abbekommen? Das weiß doch wirklich jeder: 2048!“
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< Ende Folge 99 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
[Wow, die 100. Folge! Danke an alle Leser*innen, die bis jetzt durchgehalten haben!]
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So, genug geplaudert, die Herren“, durchschnitt eine Stimme, scharf und autoritär, den Raum. Eine hochgewachsene Frau in schwarzer Uniform betrat die Bühne. Sie trug ein ähnliches Abzeichen auf ihrer Brust wie die beiden Sanitäter, doch anstelle eines roten Kreuzes prangte ein Schwert auf ihrem silbernen Schild, dem Zeichen der Paneuropäische Schutzzonenpatrouille. Den beiden Männern bedeutete sie mit einem kurzen Wink, den Raum zu verlassen, dann reichte sie mir die Hand.
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„Gestatten, Gertrude Müllernheinrich, Alpha-Officer der PSP, der Paneuropäischen Schutzzonenpatrouille“, sagte die Frau und fixierte mich mit ihren – ebenfalls grellgelben – Augen.
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Ich gab ihr die Hand. „Und ich bin…“
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„Wir wissen, wer Sie sind“, unterbrach sie mich scharf. Eine Reaktion, die mich doch sehr überraschte.
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„Sie WISSEN, wer ich bin?“ fragte ich ungläubig?“
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„Nun, es ist eigentlich impossible, aber wir haben Ihre DNA abgeglichen und es besteht kein Zweifel“, sagte sie. „Sie sind DER PROFESSOR.“
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Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit und antwortete daher: „Ähem, danke für die Lorbeeren, aber da hat sich in ihrer Analysemaschine wohl ein kleiner Mader herumgetrieben. Ich habe ja noch nicht einmal mein Studium abgeschlossen.“
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Der Blick der Frau ließ weiterhin keinen Zweifel zu. “ Sie sind DER PROFESSOR. Beziehungsweise Sie WERDEN es sein. In…“ – sie schaute auf ihre Armbanduhr, offenbar eine Art Smartwatch – “ … ungefähr 30 Jahren ihrer Lebenszeit.“
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< Ende Folge 100 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Sie wissen also, dass ich aus der Vergangenheit stamme?“ fragte ich.
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„Wenn Du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit, wie unwahrscheinlich sie auch ist,“ zitierte Officer Müllernheinrich.
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„Sherlock Holmes“, klugscheißte ich.
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„Genau!“ Für einen Moment sah ich ein kurzes Lächeln aufblitzen, als sie fragte: „Benedict Cumberbatch oder Basil Rathbone?“
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„Rathbone“, antwortete ich. War also doch ein Mensch unter all der Strenge versteckt.
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„Purist“, entgegnete sie mit spielerischer Verachtung.
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„Cumberb…“ setzte ich an, aber sie unterbrach mich: „Vorsicht, Vorsicht! Sie sprechen immer noch mit einem Officer der PSP.“
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Soviel zu Breaking-the-ice. „Dann sind Zeitreisen in Ihrer Zeit also Alltag geworden? So wie ein Wochenendtrip nach Mallorca?“ schloss ich.
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„Quatsch! Es wäre viel zu gefährlich, wenn Müller und Meier mit der Integrität der Zeit herumspielen könnten. Außerdem waren Zeitreisen reine Theorie… bis eben jener Mann in die Öffentlichkeit trat, den heute alle nur noch DEN PROFESSOR nennen“, erklärte Müllernheinrich.
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„Bis ich kam…“
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„Bis SIE kamen… und das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte anrichteten…“
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< Ende Folge 101 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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„Bitte was?“ Wusste man in dieser Welt, in dieser Zeit, etwa Bescheid über das, was Adolf Sonntag mir erzählt hatte? Über den missglückten Versuch eines zukünftigen Ichs, meine Geschichte umzuschreiben, der die Membran, die alle vergangenen und zukünftig erzählten Geschichtswelten voneinander trennte, in Stücke gerissen hatte?
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„Verzeihen Sie. Es ist natürlich unfair, Sie für etwas zu verurteilen, das eine zukünftige Version Ihrer selbst erst tun wird“, sagte Officer Müllernheinrich. „Und wir verstehen ja selbst nur einen Bruchteil von dem, was vor zwei Jahren passiert ist…“
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„Bin ich… bin ich etwa verantwortlich für die Zerstörung von Berlin? Für die Einrichtung dieser ‚Schutzzone‘?“ fragte ich besorgt.
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„Nein, nein“, sagte Müllernheinrich und ein Schatten fiel auf ihr Gesicht. „Das war unsere eigene Hybris. Der Zweite Weltkrieg…“
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„Der Zweite Weltkrieg?“ fiel ich ihr ins Wort. „Aber… Wenn wir jetzt 2048 schreiben, sollten doch alle Zerstörungen aus dem Krieg längst beseitigt sein. Ich war Silvester 2010 einmal in Berlin – und man konnte schon die Auswirkungen der Mauer kaum noch erkennen.“
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„Welche ‚Mauer‘ bitte?“ fragte Müllernheinrich, ehrlich verwirrt. „Ich meine den Atombombenabwurf der Alliierten von 1946. Das Ende des Zweiten Weltkriegs.“
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< Ende Folge 102 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
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„Äh… Also ich bin wirklich kein Historiker, aber das weiß selbst ich: Der Zweite Weltkrieg ist 1945 zu Ende gegangen“, sagte ich. „Und auf Deutschland ist nie eine Atombombe gefallen, sondern auf Japan.“
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Officer Müllernheinrich zog ihre Stirn in Falten. „Das ist… interessant. Dann stehen in IHRER Gegenwart die großen Citys etwa noch?“
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„Die großen Citys?“
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„Ja, Hamburg, Berlin, Ruhrpolis, München und Frankfurt am Main.“
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Es lief mir kalt den Rücken hinunter. „Alle diese Städte sind in IHRER Vergangenheit zerstört worden?“
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„Ja, es war ein koordinierter Atomwaffenangriff.“
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„Wie grausam“, entgegnete ich schockiert. „Wie viele Menschen…?“
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„9 Millionen“, erwiderte Müllernheinrich traurig. „Nicht eingerechnet derjenigen, die später an den Folgen des Fallouts starben. Und das Schlimmste: Wir haben angefangen.“
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„Sie haben ANGEFANGEN? Mit der ATOMBOMBE?“ Ich konnte es nicht fassen.
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„Ja, das meinte ich mit: ‚Schuld war unsere eigene Hybris.‘ Der Blitz. London, Paris, Moskau, Warschau. 1940 hat Reichskanzler Himmler…“
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„Himmler? Sie meinen Hitler?“ unterbrach ich sie.
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„Nein“, sagte Müllernheinrich. „Adolf Hitler wurde 1938 bei einem Attentat nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich getötet. Nach einem heftigen Machtkampf in den obersten Rängen der NSDAP sicherte sich Heinrich Himmler die Reichskanzlerschaft.“
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Oh mein Gott! Ich war tatsächlich nicht in MEINER Zukunft gelandet, sondern ausgerechnet in der, die Anna Freud erst ausgelöst hatte. Durch ihr verfrühtes Attentat auf Adolf Hitler.
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< Ende Folge 103 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
„Ihrer Reaktion entnehme ich, dass die Geschichte in Ihrer Erinnerung etwas anders abgelaufen ist“, seufzte Officer Müllernheinrich von der Paneuropäischen Schutzzonenpatrouille.
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„Das können Sie wohl laut sagen!“ entfuhr es mir. „Hitler hat sich in meiner Zeitlinie selbst umgebracht. Aber erst 1945 im Führerbunker in Berlin, nachdem er sah, dass der Zweite Weltkrieg verloren war.“ Wie weit ich selbst in das Attentat auf Hitler involviert gewesen war, das zu eben jener anderen Zeitlinie geführt hatte, in der die Offizierin jetzt lebte, verschwieg ich lieber.
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„Dann… dann wurde IHR Berlin nicht zerstört?“ Die Offizierin setzte sich auf einen Stuhl und atmete tief aus.
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„Doch, doch… aber nicht durch Atomwaffen. Und es wurde wieder aufgebaut“, erwiderte ich.
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„Und Hamburg? München? Frankfurt?“ Müllernheinrich schien auf dem Stuhl in sich zusammenzusacken.
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Ich nickte stumm.
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„Wie viele Menschen?“ fragte mich die Offizierin mit brüchiger Stimme.
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Ich verstand und sagte: „60 Millionen. Manche sagen 80.“
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Annas letzte Worte kamen mir in den Sinn: „Nachdem ich erfahren habe, welche schrecklichen Dinge die nächsten Jahre geschehen werden, kann ich mit diesem Wissen einfach nicht mehr weiterleben ohne etwas zu tun. Wer weiß, vielleicht kann ich diesen Wahnsinn stoppen.“ Das hatte sie mir geschrieben, kurz bevor sie sich aufgemacht hatte, Hitler zu töten.
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Müllernheinrich schaute zu mir auf. Eine Träne lief über ihr Gesicht: „190 Millionen“, sagte sie leise.
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< Ende Folge 104 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Ich saß stumm vor der Videoaufzeichnung, die vor meinen Augen in der Luft schwirrte und sah zu, wie London von einem riesigen Atompilz verschlungen wurde. Dann Paris. Dann Berlin. Dann München. Die Aufnahmen fühlten sich irreal echt an – zu echt für meinen Geschmack. Ich sah nämlich kein körniges, zweidimensionales Schwarzweißbild, wie ich es aus den Dokus meiner Zeit gewohnt war, sondern eine detaillierte, farbgetreue 3D-Aufnahme. „Real-Extrapolation“ hatte mir der Bordcomputer erklärt – eine Technik bei der mithilfe von Künstlicher Intelligenz alte 2D-Aufnahmen digital in die 3. Dimension geholt werden konnten – Farbwiederherstellung inklusive.
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Mir hatten noch so viele Fragen auf der Zunge gelegen, aber alle waren mir im Halse stecken geblieben, als die Alpha-Offizierin der Paneuropäischen Schutzzonenpatrouille mir die Opferzahlen IHRES Zweiten Weltkriegs genannt hatte. 190 Millionen Menschen. Unvorstellbar. Aber waren nicht auch schon 60 Millionen unvorstellbar gewesen? Oder nur eine Million?
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Müllernheinrich hatte sich entschuldigt, sichtbar um Fassung ringend, und den Raum verlassen. Zuvor hatte sie den Bordcomputer allerdings noch gebeten, eine Dokumentation über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs abzuspielen.
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Bis 1938 deckten sich die Ereignisse mit denen, die ich kannte. Aber dann folgten die Bilder von jenem schicksalshaften Abend an der Krolloper. Diese Masse von Menschen. Ihre Gesichter: jubelnd, extatisch, wie im Fieberwahn schwangen sie ihre Hakenkreuzflaggen und jubelten einer Gestalt zu, die die Kamera nun heranzoomte: Adolf Hitler, Führer des Deutschen Reichs. Er grinste, genoss sichtbar das Bad in der Menge, den Jubel, die Zustimmung der Massen.
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„Widerliche Hackfresse“, flüsterte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Dann zoomte das Bild wieder aus und fokussierte auf einen anderen Punkt mitten in der Menschenmasse. Eine Frau in einem karminrotfarbenen Mantel mit wasserstoffblondem Haar: Anna Freud.
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< Ende Folge 105 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Anna! Den Blick starr auf ihr Ziel gerichtet boxt sie sich durch die Menschenmenge, quetscht sich durch jede noch so kleine Lücke, schiebt und drängelt sich mit entschlossenem Blick voran, Meter um Meter voran zur Bühne, als wäre sie ein Teenie auf einem Take-That-Konzert in den 90ern.
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Aber der Mann, den all diese Menschen anhimmeln wie Robbie Williams, ist eben nicht Robbie Williams, sondern Adolf Hitler. Was verlieh diesem komischen Typen mit dem stechenden Blick und der dröhnenden Stimme nur diese Anziehungskraft? Sein Äußeres, das ja wirklich nicht jenem muskulösen Blond-und-blauäugig-Ideal entsprach, das seine eigene Ideologie so vehement propagierte, konnte es ja wohl nicht sein!
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War es wirklich das Versprechen gewesen, Deutschland wieder groß machen zu wollen? Oder das Gefühl, auf der Seite der Sieger zu stehen, zu den Starken zu gehören, dieses Gefühl von hundertprozentige Sicherheit in unsicheren Zeiten zu spüren?
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Denn Zweifel gab es ja nie in seinen Reden, geschweige denn Sorgen. Nein, immer nur ein Crescendo von Vorwärts, Weiter, Stärker. Und klare Feindbilder: Wir gegen die. Ja, wie schön lebt es sich mit klaren Feindbildern, einfach und schön, gemütlich eingeigelt in die Volksgemeinschaft.
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Es ist mir nicht schade um diesen Menschen.
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Und doch saß ich nun vor dieser Aufzeichnung und hoffte nichts anderes, als dass Anna stolpert, als dass sich ein Rücken zu massiv zum Wegschieben erweisen würde, hoffte, dass sie sich besinnen und umkehren würde, von ihrem Plan absähe.
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< Ende Folge 106 – alle Folgen nachlesen: @traumphon >
Natürlich geschah nichts dergleichen und so nimmt das Unheil seinen Lauf. Anna Freud hat sich nun bis ganz nach vorn durchgedrängelt, steht vor dem Führer, zwei Blicke treffen sich, der Blick von Adolf Hitler, geboren 1889 in Braunau am Inn, und der Blick von Anna Freud, geboren 1895 in Wien, nur sechs Jahre und doch Lichtjahre auseinander, und beide in wenigen Sekunden tot.
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Anna greift in ihren Mantel und alle erwarten ein Buch, erwarten „Mein Kampf“, erwarten ein flehentliches „Bitte signieren Sie“ adressiert an den Popstar des Nationalsozialismus, und dann ist da die Pistole, sie blitzt im Licht der untergehenden Sonne, ganz kalt und glänzend liegt sie plötzlich in der Hand der Frau, aber sie schießt noch nicht, nein, sie holt aus, mit der linken, flachen Hand holt sie aus und verpasst dem Führer, dem Größten Führer Aller Zeiten, dem Mann mit dem Bart, verpasst ihm eine Ohrfeige, die härteste Ohrfeige aller Zeiten. Und für einen Moment steht alles still, die Menge, der Führer, seine Leibwächter, die Polizisten, ja, selbst Anna Freud selbst steht still und betrachtet ihr Werk, den roten Abdruck, ihre Hand auf der Führerwange, wie lächerlich das aussieht, und dann lächelt sie, zufrieden, im Reinen mit sich und der Welt und zieht die Pistole und schießt und…
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„Nein, Anna!“ rief/rufe ich!
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… und dreht sich plötzlich um, dreht sich einfach um! Das gibt es doch nicht! Sie hat sich umgedreht! Sie hat sich wirklich umgedreht! Unmöglich! Unmöglich! Und während ich noch denke „unmöglich!“ trifft eine Kugel Annas Brust, erst eine, dann eine zweite, dann eine dritte, vierte, fünfte. Polizistenkugeln, Leibwachenkugeln, nein, nein, nein! „Nein, nein, nein!“ rief ich laut, und „Anna!“ und dann wurde mir auf einmal ganz schwummrig, schwindelig, ganz schwarz vor den Augen, ganz…
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< Ende Folge 107 -alle Folgen: @traumphon >
Als ich wieder erwachte, fand ich mich in einem Bett liegend. Aber dieses Bett stand offensichtlich nicht auf der kleinen Krankenstation des Schiffes der Paneuropäischen Schutzzonenpatrouille, sondern in einem größeren Gebäudekomplex. Außerdem war ich gefesselt. Nein, nicht gefesselt: Mehrere Schläuche steckten in meiner Nase, meinen Armen, pumpten Flüssigkeit in oder aus meinem Körper heraus. Panik stieg in mir auf.
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„Schhhhh, schhhhh“, flüsterte eine Stimme neben mir. Officer Müllernheinrich blickte mich mit ihren grellgelben Augen an. „Bleiben Sie bloß liegen.“
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„Was ist passiert?“ stammelte ich.
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„Ich habe Sie bewusstlos auf dem Boden liegend gefunden“, erwiderte die Frau. „Sie sind in ein Koma gefallen. Dabei hatten meine Sanis mir versichert, Sie von allen Strahlenbelastungen geheilt zu haben.“
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Ich gähnte. „Wie lange?“
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„Drei Tage“, gab die Offizierin zurück.
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„Drei Tage?“ entfuhr es mir überrascht. Und dann kam die Erinnerung zurück. „Anna! Sie haben Anna getötet!“
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Müllernheinrich runzelte die Stirn. „Anna? Welche Anna meinen Sie? Das müssen Sie geträumt haben…“
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Nein. Sicher nicht. Ich hatte nämlich gar nichts geträumt, rein gar nichts. Das Mittel, das Der Erzähler mir in seiner Hütte verabreicht hatte, wirkte wohl immer noch. Gut so, ich befand mich gerade wirklich nicht in der Kondition, es in viel zu realen Träumen mit zähnefletschenden Wölfen und alles verkohlenden Feuersbrünsten aufzunehmen.
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„Es war kein Traum. Ich habe Sie gesehen. In Ihrer Doku über den Zweiten Weltkrieg. Anna Freud…“
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„Anna Freud meinen Sie“, sagte Müllernheinrich. „Ja, natürlich kenne ich die! Jeder hier kennt die Führermörderin!“
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< Ende Folge 108 -alle Folgen: @traumphon >
„Führermörderin?“ Ich stutzte. „Wird Anna in Ihrer Zeit nicht als große Widerstandskämpferin gefeiert? Als Heldin, die ihr eigenes Leben gab, um die Welt von einem Tyrannen zu befreien?“
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Müllernheinrich lachte kühl auf. „Heldin? Von wegen! Unsere Geschichtsschreiber sind sich sicher, dass Anna Freuds Attentat den Zweiten Weltkrieg erst ermöglichte. Die Radikalisierung der NSDAP nach dem Attentat unter Reichskanzler Himmler. Den Blutdurst der Bevölkerung direkt danach. Die Pogrome, den Holocaust…“
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„Ihre Historiker irren, glauben Sie mir“, antwortete ich düster. „In meiner Version der Geschichte HAT Hitler überlebt. Und trotzdem gab es einen Weltkrieg, trotzdem wollten er und seine Schergen alles jüdische Leben auslöschen – und hätten es fast geschafft.“
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„Aber Ihre Version der Geschichte hat nur halb so vielen Menschen das Leben gekostet und nicht halb Europa in nukleares Sperrgebiet verwandelt“, sagte Müllernheinrich.
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„Das stimmt. Aber ich verstehe immer noch nicht, wie die Nazis bereits 1940 Atombomben einsetzen konnten“, überlegte ich laut. „In der Schule haben wir gelernt, dass die Kernspaltung erst 1938 entdeckt wurde.“
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„Von Otto Hahn und Fritz Straßmann, ja. Da deckt sich Ihre Geschichte mit der unsrigen“, antwortete Müllernheinrich. „Aber dann kam es plötzlich zu einem Quantensprung in der Forschung. Innerhalb kürzester Zeit wurden Technologien entwickelt, die bis dato impossible schienen. Bis heute sind sich unsere Forscher uneins, wie das passieren konnte.“
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Mir schwante Böses. „Fast so, als hätten sie die Baupläne einfach irgendwo gefunden…“ murmelte ich.
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„Ja, genau“, sagte Müllernheinrich. „Fast so, als wäre ihnen die Technologie einfach so vor ihre Füße gefallen.“
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< Ende Folge 109: alle Folgen @traumphon >
Mein Smartphone! Die Nazis mussten mein Smartphone bei Anna gefunden und Zugriff darauf erlangt haben! Oder es auseinander gebaut haben, um die Technik dahinter zu verstehen.
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Müllernheinrich beäugte mich skeptisch. „Sie… Sie haben etwas damit zu tun! Sie… sind nicht einfach nur aus Ihrer Zeit gerissen und in die Zukunft versetzt worden wie all die anderen. Sie wissen etwas!“
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„Wie all die anderen? Was meinen Sie damit?“ Ich stotterte. „Ich, ich weiß ni…!“
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Müllernheinrich drückte mich mit ihrer Hand so fest auf das Bett zurück, dass es mir fast den Atem abschnürte. „Sie… sagen… mir… jetzt… SOFORT alles, was Sie wissen, oder ich schwöre beim großen fliegenden Spaghettimonster, ich vergesse mich!“
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Und ich erzählte ihr alles.
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< Ende Folge 110: alle Folgen @traumphon >
„Das ist die absurdeste, verwirrendste, an den Haaren herbeigezogenste Geschichte, die ich jemals gehört habe.“ Müllernheinrich lachte kühl auf. „So einen verschwurbelten Mist kann sich niemand ausdenken. Das muss wahr sein.“
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„Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit, wie unwahrscheinlich sie auch ist,“ zitierte ich erneut.
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Müllernheinrich rang sich ein gequältes Lächeln ab. „Es geht also um nichts anderes als um die Rettung des Universums…“
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„Wenn es nur das wäre“, entgegnete ich und setzte mit dramatischer Stimme nach: „Es geht um das Ende aller Zeiten, aller Universen, um das Ende aller Geschichten, die jemals erwähnt wurden und jemals erzählt werden.“
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„Können wir trotzdem bitte einfach ‚das Ende des Universums‘ sagen“, bat mich Müllernheinrich mit einem Seufzer. „Das andere ist einfach viel zu lang.“
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„Mmmmhhhh… ok“, entgegnet ich, auch wenn ich den dramatischen Klang von ‚das Ende aller Zeiten, aller Universen, das Ende aller Geschichten, die jemals erwähnt wurden und jemals erzählt werden‘ wirklich mochte. „Aber jetzt sind SIE dran: Was haben SIE mir noch nicht erzählt? Und was meinten Sie eben mit ‚die Anderen‘? Gibt es noch weitere Zeitreisende wie mich?“
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Müllernheinrich seufzte. „Soviel zu Geheimhaltungsstufe Alpha-Eins. Kommen Sie mit! Ich zeige es Ihnen.“
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< Ende Folge 111: alle Folgen @traumphon >
Nachdem eine Ärztin meine Vitalwerte gecheckt und mich grummelnd von den Schläuchen befreit hatte, die mich ans Krankenbett gefesselt hatten, verließen die Alpha-Offizierin und ich die Krankenstation und bogen in einen langen Korridor ein.
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Die Wände waren kahl und klinisch weiß, wie man es von einem Krankenhaus erwartete. Aber jedes Mal, wenn jemand vorbeiging, erwachten sie zum Leben, projizierten entweder nützliche Informationen für Besucher, Kurzvideos von Landschaftsszenarien aus aller Welt oder, als wir vor einer Fahrstuhltür warteten, Werbung. Ich seufzte.
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„YELLOW EYES! We put the NICE in your EYES!“ plärrte ein grellgelb gezeichneter Lemming direkt in die Kamera, nahm seine Sonnenbrille ab und zum Vorschein kamen funkelnde gelbe Augen. Dieselben, die ich schon bei den beiden Sanis und Müllernheinrich gesehen hatte.
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Müllernheinrich hielt genervt – und etwas peinliche berührt – ihr rechtes Auge in einen neben der Tür installierten Retina-Scanner. „Manuelle Notfall-Werbeüberbrückung aktiviert. Lift kommt“, säuselte eine viel zu freundlich klingende männliche Stimme. Eine halbe Sekunde später öffneten sich die Lifttüren.
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„Die Verzögerung ist künstlich“, stöhnte die Offizierin. „20 Sekunden Wartezeit, um Werbung zu schauen. Fest eingebaut in dieses Aufzugsmodell. Darum war es billiger in der Anschaffung.“
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„Voll die gute Idee in einem Krankenhaus“, erwiderte ich trocken.
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„Ach, hören Sie bloß auf!“ blaffte Müllernheinrich gereizt. „Außerdem handelt es sich bei diesem Gebäude gar nicht primär um ein Krankenhaus – auch wenn die medizinische Versorgung state-of-the-art ist!“
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Das weckte meine Neugier. „Wo befinden wir uns denn dann?“
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Müllernheinrich lächelte grimmig. .
< Ende Folge 112: alle Folgen @traumphon >
„Das Gebäude, in dem wir uns momentan befinden, ist das HTDP“, klärte mich Müllernheinrich auf.
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„Klingt wie der Beginn einer Webseite“, merkte ich an.
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Die Alpha-Offizierin stöhnte, ging aber nicht weiter auf meinen – zugegeben nicht allerbesten – Witz ein. „HTDP steht für ‚Home for Temporal Displaced People‘. Die Existenz dieses Ortes unterliegt der höchsten Geheimhaltungsstufe. Ihr Brechen gilt als Hochverrat und wird mit dem Tod bestraft.“
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„Ich hoffe, Sie haben eine Ausnahmegenehmigung,“ kommentierte ich und meinte es nur halb im Scherz.
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„Nein“, sagte Müllernheinrich ernst. „Ich muss Sie jetzt töten.“
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Für eine Sekunde glaubte ich ihr tatsächlich. Was für ein Pokerface. „Trotzdem… die Todesstrafe? Das erscheint mir etwas… drastisch.“
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„Meinen Sie wirklich?“ fragte Müllernheinrich zurück. „Sie selbst sind mit Ihrer Unachtsamkeit dafür verantwortlich, dass die Nazis in unserer Zeitlinie einen riesigen Technologievorsprung hatten und den Zweiten Weltkrieg mit einem koordinierten Atomwaffenschlag auf London, Paris, Moskau und Warschau starten konnten. Und das nur, weil sie ein verdammtes Smartphone verloren haben!“
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„Es… es wurde mir gestohlen“, versuchte ich zu präzisieren, aber die Offizierin zog nur eine Augenbraue in die Höhe.
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„Okay, okay, bin schön ruhig,“ entschuldigte ich mich.
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„Vor zehn Jahren tauchte der erste Displacee in unserer Zeit auf: Barbarossa von Gottesfrieden, ein Raubritter aus dem Mittelalter. Einfach so, mitten in einer der größten Shopping-Malls von New-Berlin. Tötete drei Zivilisten und zwei Polizeibeamte, bis man ihn schließlich überwältigen und betäuben konnte.“
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„Autsch“, sagte ich.
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„Ja, genau. Wir hielten ihn zunächst für einen cuckoo gewordenen Cosplayer, aber dann häuften sich die Fälle von seltsamen Menschen, die aus dem Nichts auftauchten, in unserem zentralen DNA-Register nicht verzeichnet waren und behaupteten, sie kämen aus einer anderen Zeit.“
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< Ende Folge 113: alle Folgen @traumphon >
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„Und dann haben Sie dieses… Gefängnis hier gebaut und sie einfach alle weggesperrt?“ fragte ich fassungslos. „Einfach so, nur weil sie aus einer anderen Zeit kamen? Das ist doch kein Verbrechen!“
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„Nein, das ist es nicht“, erwiderte Müllernheinrich mit ernster Stimme. „Aber die Stabilität unserer Gesellschaft stand auf dem Spiel.“
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Ich schaute sie weiter ungläubig an.
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„Wissen Sie, bei allem Horror, den uns der atomare Krieg gebracht hat… all die Menschenleben, die er gekostet hat… der Schock der fast vollständigen Vernichtung hat uns Menschen zusammenrücken lassen“, führte die Offizierin aus. „Wir haben zwar noch keine Weltregierung, aber stehen kurz davor.“ Die Augen der Frau funkelten förmlich. „Der Weltfrieden, verstehen Sie, dieser uralte Traum! In greifbarer Nähe!“
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„Das muss ja ein stabiler Weltfrieden sein, wenn ein Raubritter aus dem Mittelalter ihn gefährden kann“, entgegnete ich.
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„Sie verstehen nicht: All diese Menschen aus der Vergangenheit – sie berichteten natürlich, was in ihrer Geschichte, in ihrer Zeitperiode WIRKLICH passiert war. Gingen in Talkshows und so.“
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„Und was war daran so schlimm?“ fragte ich.
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„Nun, häufig deckte sich das Erzählte nicht mit dem, was in unseren Geschichtsbüchern stand. Wie unsere Historiker die Geschichte interpretiert hatten. Plötzlich wurde alles wieder hinterfragt. Alte Feindseligkeiten zwischen Nationen flammten wieder auf, längst vergessene Fehden wurden wieder aufgenommen. Wir mussten reagieren.“
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„Und dann ließen Sie dieses Gefängnis erreichten und sperrten alle ein?“ Mir schauderte. „Das ist… unmenschlich.“
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„Ja, vielleicht.“ Müllernheinrich schaute mich überzeugt an. „Aber nötig für das Wohl aller.“
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< Ende Folge 114: alle Folgen @traumphon >
Müllernheinrich glaubte das wirklich – und ihrem Gesicht konnte ich ansehen, dass ihr der Gedanke, unschuldige Menschen für eine Sache einzusperren, für die sie nichts konnten, eigentlich unangenehm war. Was nichts an der Sache an sich änderte.
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„Man muss auch beachten“, rechtfertigte sie sich weiter: „Den displacees mangelt es hier an nichts: Gourmetköche bereiten ihr Essen zu, sie erhalten medizinische Versorgung, von der sie in ihrer eigenen Zeit nur träumen konnten, unbegrenzten Zugang zu unserer globalen Wissensbibliothek, Sportmöglichkeiten, riesige, private Wohnräume…“
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„Und doch bleibt es ein goldener Käfig!“ warf ich ein.
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„An den sich viele unserer Gäste gewöhnt haben“, entgegnete Müllernheinrich – und zog ihre Trumpfkarte aus dem Ärmel. „Besonders diejenigen, deren unheilbare Krankheiten wir heilen konnten…“
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„Trotzdem.“ Mir fiel keine bessere Erwiderung ein, aber plötzlich etwas ganz anderes auf: „Sagen Sie, kamen die Zeitreisenden eigentlich nur aus der Vergangenheit?“
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< Ende Folge 115: alle Folgen @traumphon >
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„Ja“, bestätige Müllernheinrich meine Beobachtung. „Die Zeitreisenden kamen immer aus der Vergangenheit.“
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„Und das ist Ihnen nie komisch vorgekommen?“ fragte ich.
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„Ehrlich gesagt, ich habe nie weiter darüber nachgedacht.“ Müllernheinrich überlegte einen Moment. „Die Konsequenzen waren so schon schlimm genug. Fast wäre ein neuer Krieg losgetreten worden. Allein dem History Preservation Act ist es zu verdanken, dass wir ein Blutvergiessen verhindern konnten.“
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„Dem WAS?“
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„Das Paneuropäische Parlament verabschiedete vor acht Jahren ein Gesetz, den History Preservation Act, der die Einrichtung des HDTP möglich machte und die Geschichtsforschung für außerstaatliche Subjekte unter Strafe stellte.“
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„Sie haben ein staatliches Monopol auf die Interpretation von Geschichte geschaffen?!“ Ich konnte es nicht glauben. „Und was passiert, wenn man sich dem widersetzt? Auch Kopf ab?“
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„Nein, natürlich nicht. Wir sind ja keine Diktatur! Es gibt einfach keine Fördergelder mehr. Und keine Stellen in Universitäten für nicht-staatlich abgenommene Geschichtsforschung. Dann regelt sich das ganz von selbst.“
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„Sie haben Geschichte von allen Lehrplänen in den Schulen und Unis gestrichen?“ fragte ich erschrocken. Geschichte hätte nie zu meinen Lieblingsfächern gezählt, aber…
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„Selbstverständlich nicht. Aber zugelassen werden eben nur diejenigen, die die Geschichte, wie wir sie VOR den Zeitreisenden kannten, lehren und erhalten. Und uns positiv in die Zukunft blicken lassen.“
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„Allein die Zukunft zählt“, murmelte ich, den Spruch wiederholend, den die Sanis mir kurz nach dem Aufwachen in dieser Zeit an den Kopf geworfen hatten.
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„Allein die Zukunft zählt“, echote Gertrude Müllernheinrich, Alpha-Officer der Paneuropäischen Schutzzonenpatrouille überzeugt.
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< Ende Folge 116: alle Folgen @traumphon >
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Aber was ist mit diesen Historic Explorers, mit denen mich ihre Sanis verwechselt haben?“ fragte ich.
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„Ein paar Neugierige, die sich nicht anpassen wollen, gibt es immer“, entgegnete Müllernheinrich. „Versuchen Beweise für die Dinge zu finden, die die Zeitreisenden erzählt haben. Die Schutzzonen in den verstrahlten Städten gehören zu ihren liebsten Jagdgründen. Wir lassen sie gewähren, drücken ihnen hier und da ein gepfeffertes Bußgeld auf. Die meisten Menschen halten sie sowieso für Spinner.“
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„Ganz toll. Ihre Zeit ist echt ein wahres Paradies!“ erwiderte ich sarkastisch.
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„Jetzt hören Sie mal auf! Ist in Ihrer Welt der Hunger besiegt? Was ist mit Kriegen? Gibt es die noch? Was ist mit Diktatoren, die ihre eigene Bevölkerung abschlachten? Gewalt in Namen von Religion? Hass gegen alles Fremde?“ Müllernheinrichs Gesicht war rot angelaufen. „Wir müssen nach vorne blicken, nicht immer nur zurück!“
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Ich schaute betreten zu Boden. „Ich weiß ja nicht, ob ihr Weltfrieden auf so sicheren Füßen steht, wie sie glauben“, erwiderte ich immer noch skeptisch. „Aber es ist im Endeffekt ja auch egal, wenn sowieso das Ende aller Zeiten und aller jemals erzählten Gesch… das Ende des Universums bevorsteht.“
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„Genau. Und deswegen sollten wir jetzt zusammenarbeiten!“
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< Ende Folge 117: alle Folgen @traumphon >
Müllernheinrich stoppte vor einer Tür und hielt ihr Auge in das grüne Laserlicht des Retina-Scanners. „Zugang erlaubt“, piepste die Computerstimme. Die Tür öffnete sich.
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„Kommen Sie herein. Ich will Ihnen einen alten Bekannten vorstellen!“ sagte die Offizierin.
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„Einen alten Bekannten? Ich trat in den Raum. Er war vollgestellt mit altertümlichen Regalen voller Bücher. In der Ecke stand eine Couch. Und daneben ein Schreibtisch. Ein Mann hockte daran, vertieft in seine Unterlagen.
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„So früh, Gertrude? Unsere Sitzung ist doch planmäßig erst für morgen früh angesetzt. Oder hatten Sie schon wieder diesen grässlichen Traum mit dem Panther und der Vagina?“
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Die Offizierin lief rot an. „Ähhh… nein. Nicht jetzt“, haspelte sie, fing sich aber sofort wieder. „Professor Freud. Ich habe Besuch für Sie.“
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< Ende Folge 118: alle Folgen @traumphon >
Sigmund Freud blickte auf und studierte mich intensiv. „Ach, Sie sind das! Der Mann aus meinem Wandschrank! Haben Sie ‚Die Brüder Karamasow‘ gelesen, wie ich es Ihnen empfohlen habe?“
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Mir fehlten die Worte. Freud war definitiv weit über 80, sah aber viel gesünder und vitaler aus als beim letzten Mal, als ich ihm begegnet war. In Wien, 1938. Am Tag vor meiner Abreise mit seiner Tochter Anna.
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„Herr Freud“, stammelte ich. „Es tut mir so leid. Ihre Tochter,… Anna,… Ich konnte sie nicht…“
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Der Psychoanalytiker schnaubte. „Als hätten Sie je eine Chance gehabt, meine Tochter umzustimmen. Wenn Anna sich etwas in den Kopf setzt… Und ich muss sagen, ich bin stolz auf sie, auch wenn diese Schmocks aus der Zukunft hier nicht kapieren, was sie geleistet hat. Haben Sie diese Ohrfeige gesehen?“
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Ich musste tatsächlich etwas lächeln, dann aber wieder daran denken, was Bruchteile von Sekunden später passiert war, als Anna Freud von Pistolenkugeln praktisch durchlöchert worden war. „Ja, aber die Geschichte. Sie ist noch viel schlimmer ausgegangen als… als in meiner Version der Geschichte.“
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„Wissen Sie“, sagte Freud, „ihre Version der Geschichte ist nur eine mögliche Zukunft für mich. So real wie eine fiktive Erzählung oder ein Traum. Und in meiner Version hat meine Tochter dafür gesorgt, dass ein abgrundtief böser Mensch keine Untaten mehr vollbringen kann. Dass jemand anderes für ihn in die Bresche springen würde – es war erwartbar. Aber es schmälert ihre Verdienste in meinen Augen nicht.“
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So hatte ich das noch gar nicht betrachtet. Und ich muss gestehen: Seine Sichtweise gab mir wieder etwas Kraft und Mut. Ja, vielleicht mochte die Aufgabe, die uns bevorstand, tatsächlich unschaffbar sein. Vielleicht war das Ende aller Geschichten unvermeidlich. Aber es abzuwenden – wir mussten es zumindest versuchen!
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< Ende Folge 119: alle Folgen @traumphon >
„Sigmund Freud ist vor fünf Jahren in unserer Zeit aufgetaucht“, erläuterte Alpha-Offizierin Gertrude Müllernheinrich. „Er befand sich… in keiner guten Verfassung.“
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„Sie untertreiben“, warf der berühmte Psychoanalytiker ein. „Ich war ein dem Tod geweihter Mann. Die Nazis hatten mich nach Annas Attentat auf Hitler in ihre Fänge bekommen und übel zugerichtet. Selbst wenn ich ihnen irgendwie entkommen wäre – meine Krankheit war bereits so weit fortgeschritten, dass ich nur noch weniger Monate zu leben gehabt hätte.“ Freud wandte sich mir zu. „Und jetzt schauen Sie mich an!“
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„Sie sehen… außerordentlich fit aus für einen Achtzigjährigen“, musste ich ihm beipflichten.
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„Charmant“, entgegnete Freud. „Ich hätte mich auch weiter verjüngen lassen können, erfreue mich aber durchaus an der Gravitas des Alters. Zumindest äußerlich.“
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„Wie meinen Sie das?“ fragte ich verwirrt.
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„Nun – die wundersame Medizin dieser Zeit hat mich nicht nur von meiner Krankheit geheilt, sondern auch innerlich einer Frischzellenkur unterzogen“, erläuterte Freud. „Äußerlich mag ich wie 80 aussehen, aber hier drin“ – er klopfte auf seine Brust – „werkeln die Organe eines 30-Jährigen.“
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„Aber“, warf ich ein. „Stört es Sie denn gar nicht, hier eingesperrt zu sein?“
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„Wissen Sie, im Gegensatz zu einigen anderen Gestalten, die hier im Home for Temporal Displaced People leben, hat mich dieses unerklärlich Phänomen ja nicht aus der Mitte meines Lebens gerissen und in die Zukunft versetzt.“ Freud setzte sich auf und reichte mir die Hand. „Außerdem hilft es mir jetzt, eines der größten Rätsel meines Lebens zu lösen.“
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Ich stutzte. „Was da wäre?“
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„Na Sie! Wer sind Sie wirklich und warum tauchen Sie immer wieder in meinem Leben auf?“
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< Ende Folge 120: alle Folgen @traumphon >
Ich lachte auf. „Wenn ich das selbst wüsste, würde ich es Ihnen gern verraten, Professor! Bislang fühlt es sich eher so an, als würde meine Geschichte von fremder Hand gelenkt, als wäre ich nur der Spielball äußerer Kräfte und ständig auf der Flucht vor allem.“
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Freud nickte verständnisvoll und ließ mich weiter reden.
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„Ich meine: Erst diese komischen Traumbotschaften aus meinem Smartphone, dann diese geheimnisvollen Verfolger in Wolfenbüttel, Alpträume, in denen ich real verletzt werden kann, ein Wandschrank, der mich ins Jahr 1938 katapultiert, ein seltsamer Herr, der behauptet, der allwissende Erzähler einer Geschichte gewesen zu sein, in der ich lebe, mich aber gegen die Regeln gestellt und den Autoren sauer gemacht habe. Also ein zukünftiges Ich! Dann ein fucking Radiergummi, das diesen Erzähler vor meinen Augen aus der Welt gelöscht hat! Und jetzt stehe ich hier in der Zukunft, im Jahre 2038 in einer Anstalt für Zeit-Refugees!“ Ich atmete tief aus. Schweiß lief mir über die Stirn. „Kann dieser Wahnsinn bitte mal aufhören?!“
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„Ich glaube…“, sagte Freud und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Ich glaube, der Wahnsinn beginnt gerade erst…“
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< Ende Folge 121: alle Folgen @traumphon >
Natürlich war Sigmund Freud äußerst begierig darauf zu erfahren, was geschehen war, seitdem wir uns das letzte Mal begegnet waren.
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Der Psychoanalytiker hatte darauf bestanden, dass ich während meiner Erzählung auf der Nachbildung seiner originalen Couch Platz nahm – eine Bitte, der ich zuerst nur widerwillig nachkam. Aber während ich so da lag und erzählte, spürte ich eine seltsame Ruhe in mir aufsteigen. Das mehrfache Erzählen half tatsächlich, meine absurden Erlebnisse in der Realität zu verankern. Sie als etwas zu akzeptieren, dass tatsächlich geschehen war. Freuds Art zuzuhören tat sein übriges dazu. Der Professor ließ mich reden, nickte hier und da und machte sich konzentriert Notizen. Nur einmal, als ich von dem Radiergummi berichtete, das plötzlich erschienen war, und den Allwissenden Erzähler ausradiert hatte, zog es seine linke Augenbraue fast unmerklich in die Höhe.
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Alpha-Offizierin Müllernheinrich hatte sich auf Bitte Freuds aus dem Zimmer verabschiedet, aber ich war mir sicher, dass sie unser Gespräch auf die eine oder andere Weise belauschte. Wahrscheinlich waren überall im Zimmer mikroskopische Kameras versteckt, die jede unserer Bewegungen und jeden Satz in HyperHD oder so mitschnitten. Müllernheinrichs unbedingter Glaube an ihren allgegenwärtigen Staat war mir nicht geheuer, auch wenn ich sie persönlich als recht nett empfand und das Leben in der Zukunft durchaus lebenswert – und lebensverlängernd! – erschien.
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„Und jetzt Sie!“ forderte ich Freud auf, als ich meine Erzählung beendet hatte, und deutete ihm an, auf seiner eigenen Couch Platz zu nehmen. Der Psychoanalytiker blickte amüsiert von seinem Notizblock hoch – und folgte meiner Einladung. „Nun dann“, sagte er, liegend, und faltete die Finger ineinander. „Beginnen wir an dem Morgen, als Sie und Anna unser Haus verlassen haben, um nach Wolfenbüttel zu fahren…“
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< Ende Folge 122: alle Folgen @traumphon >
[Sigmund Freud:] Sie können sich vorstellen, ich befand mich nicht in der besten Stimmung: Sie und meine Tochter ziehen zu lassen und selbst auf den Beobachterplatz verbannt zu werden, das missfiel mir doch sehr. Also beschloss ich, selbst aktiv zu werden. Zwar machten mir meine gesundheitliche Verfassung und mein nicht unerheblicher Bekanntheitsgrad eine Reise ins Deutsche Reich unmöglich. Aber innerhalb Wiens, so dachte ich mir, würde ich mit etwas Geschick den Nazischergen wohl entgehen können.
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Tatsächlich gelang es mir mit der Hilfe einiger guter Freunde, unentdeckt die Nationalbibliothek zu betreten. Vielleicht, so erhoffte ich mir, würde ich an diesem Hort des Wissens etwas mehr über diesen mittelalterlichen Codex herausfinden, den Sie und meine Tochter in der Bibliotheca Augusta in Wolfenbüttel zu finden erhofften und über seinen Autoren Maximilianus, der Sie erst auf meine Fährte geführt hatte und aus unerfindlichen Gründen meine exakte Adresse in Wien kannte.
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Der erste Tag endete wenig erfolgreich: Zuerst hatte ich noch gehofft, vielleicht selbst eine Kopie des „Codex Somniorum Maximilianeus“ zu finden und Ihnen in dieser Hinsicht zuvorzukommen. Aber diese Hoffnung war freilich töricht gewesen. Nicht einen einzigen Hinweis fand ich auf das Buch – und was Maximilianus oder Maximilianeus oder Maximilian anging, so gab es einfach zu viele Personen dieses Namens. Ich suchte nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen und hätte sicher noch wochenlang vergeblich gesucht – wenn ich am nächsten Tag nicht eine wahnwitzige Zufallsentdeckung gemacht hätte…
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< Ende Folge 123: alle Folgen @traumphon >
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[Sigmund Freud:] Ich saß gerade vertieft in die Lektüre eines mittelalterlichen Folianten im großen Prunksaal, als ich plötzlich lautes Gebrüll vernahm. Eine Gruppe grobschlächtig aussehender Männer drängelte sich ohne jeden Respekt für diesen Ort des Wissens durch die Reihen. Die Gestapo!
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„Wo ist er?“ brüllte der eine, ein besonders hässlicher Schlägertyp, dessen Uniform seine Grobschlächtigkeit nicht verbergen konnte, einen hageren, distinguierten Mann mit schütterem Haar an. Als der nicht sofort antwortete, versetzte ihn der Gestapo-Halunke einen Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht.
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Mir gefror das Blut in den Adern. Sie mussten hinter mir her sein! Ich fürchtete, die Nazis hätten Sie und meine Tochter erwischt und wollten nun auch mich in ihren Kerker werfen! Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf: Sollte ich versuchen zu fliehen? Sollte ich kampflos, aber würdevoll mitgehen? Oder sollte ich mich wehren und der Inhaftierung widersetzen, auch wenn diese Option im besten Fall mit Schmerzen, im schlimmsten mit dem Tod verbunden war?
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Der alte Mann lag indes wimmernd auf dem Boden, Blut schoss ihm aus der Nase und hatte die Vorderseite seines weißen Hemds bereits rostrot verfärbt. Dann hob die arme Seele seine Hand – und zeigte mit dem Finger direkt auf mich!
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< Ende Folge 124: alle Folgen @traumphon >
[Sigmund Freud:] Es ist schon seltsam, wie unlogisch unser Fluchtreflex funktioniert. Obwohl ich genau wusste, dass mich der Gestapo-Scherge gesehen hatte, versuchte ich mich dennoch reflexartig hinter den Seiten des schweren Folianten zu verstecken, den ich gerade gelesen hatte. Vergebene Lebensmüh! Der Nazi schlug mir das wertvolle Buch aus den Händen, riss mich am Arm in die Höhe und musterte mich mit seinem rot angelaufenen Ganovengesicht.
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„Was soll denn das?“ blaffte er den alten Mann an, der noch immer auf dem Boden des Prunksaals lag und leise schluchzte.
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„Ich dachte“, stammelte der Alte, „Ich dachte Sie suchen Herrn Freu…“
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„Du sollst nicht denken, sondern antworten“, brüllte der Nazi und verpasste dem alten Mann einen weiteren Schlag mitten ins Gesicht. Ich hörte, wie sein Nasenknochen splitterte. „Wo ist Josef Bick, herrgottnochmal?!“
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Bick. Natürlich. Josef Bick war seit 1923 Generaldirektor der Österreichischen Nationalbibliothek und einer der verdientesten Philologen des Landes. 1931 hatte er das Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich erhalten. Ich erinnere mich noch genau, es gab sehr leckere Schnittchen. Jetzt waren sie gekommen, um ihn zu holen. Denn eins war klar: Josef Bick würde ganz sicher nicht mit diesen Naziverbrechern kooperieren
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„Ich weiß nicht“, wimmerte der alte Mann, „wahrscheinlich ist er in seinem Büro?“
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„Na dann los, Abmarsch!“ brüllte der Gestapo-Befehlshaber seinen Gefolgsleuten zu und spuckte noch einmal auf den alten Mann am Boden, der dort wie ein Häufchen Elend kauerte. „Verzeihen Sie, Herr Freud, bitte vergeben Sie mir!“ schluchzte dieser in meine Richtung, als wir wieder alleine im Raum waren. „Ich wollte nicht, aber…“
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Ganz ehrlich: Ich wollte ihm wirklich sagen, dass ich es verstand, dass ich ihm vergeben konnte, aber die Worte kamen einfach nicht über meine Lippen. Aber dann sah ich plötzlich das Buch auf dem Tisch liegen, das der Alte zuvor gelesen hatte – und mir gefror das Blut in den Adern.
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< Ende Folge 125: alle Folgen @traumphon >
„Ihnen gefror also das Blut in den Adern?“ unterbrach ich Sigmund Freuds Erzählung schmunzelnd. „Biologisch korrekt betrachtet hätte Ihre Geschichte damit ein abruptes Ende gefunden, das wissen Sie schon, oder?“
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Freud seufzte. „Ein bisschen Drama hat noch keiner Erzählung geschadet. Wäre es Ihnen lieber gewesen, ich hätte ‚Mir stellten sich die Nackenhaare hoch‘ gesagt? Oder: ‚Mir lief es eiskalt den Rücken herunter‘?“
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„Nein, definitiv nicht“, antworte ich. „Bitte, erzählen Sie weiter. Was stand denn nun in diesem Buch, das Sie so erschreckte?“
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„Nun“, erwiderte Freud. „Es war nichts Geschriebenes, sondern eine Zeichnung. Eine Zeichnung, die ganz eindeutig das Gesicht eines jungen Mannes zeigte – IHR Gesicht!“
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„Der Anblick meines Gesichts ließ Ihnen also ‚das Blut in den Adern gefrieren‘?“ fragte ich zurück. „Na, danke auch, sehr charmant!“
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Freud stöhnte. „Sie wissen schon, dass Sie manchmal ein ganz schöner Quälgeist sein können?“
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„Pardon, Herr Professor“, gab ich zurück. „Aber gerade Sie dürften doch die therapeutische Wirkung von Galgenhumor in Extremsituationen kennen…“
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„Humor ist, wenn man trotzdem lacht“, zitierte Freud den deutschen Lyriker Otto Julius Bierbaum. „Also, darf ich nun fortfahren?“
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„Wie Ihnen beliebt. Diese Geschichte ist die Ihre. Sie sind der Erzähler. Und ich bin ganz Ohr.“
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< Ende Folge 126: alle Folgen @traumphon >
[Sigmund Freud] „Mit zitternden Händen schlug ich das Buch zu, um einen Blick auf den Einband werfen zu können. Hatte mir der Zufall hier wirklich den Codex Somniorum Maximilianeus in die Hände gespielt? Jenes Buch, das in Ihrer Zeitlinie in der Bibliothek in Wolfenbüttel von Unbekannten verbrannt worden war und das meine Tochter und Sie in meiner Zeitlinie aufzuspüren versucht hatten?
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Ein kurzer Blick enttäuschte diese Hoffnung. Dieses Buch war viel jüngeren Datums und außerdem nicht auf Lateinisch, sondern auf Deutsch verfasst. Aber für eine genauere Analyse blieb keine Zeit. Schon hörte ich lautes Gebrüll und Gepolter aus den oberen Stockwerken dringen. Die Gestapomänner hatten das Büro von Generaldirektor Bick gestürmt, der offenbar nur widerwillig seinen Schreibtisch geräumt hatte. Mir war klar, dass ich eine neuerliche Begegnung mit diesen Rohlingen um jeden Fall vermeiden musste. Daher tat ich etwas, auf das ich nun wirklich nicht stolz war: Ich versteckte das Buch in meinem Mantel und verließ die Bibliothek fluchtartig Richtung Berggasse 19.
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Zuhause am Schreibtisch begutachtete ich mein Diebesgut. „Das wunderliche Leben des Tagträumers Maximilianeus, der durch Zeit und Raum wandelte – ein Augenzeugenbericht ohne Anspruch auf Wahrheit und Lüge“ stand in goldenen Lettern auf dem Einband. Der Buchtitel sagte mir nichts, wohl aber sein Autor: Jean Paul.
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< Ende Folge 127: alle Folgen @traumphon >
„Jetzt haben Sie sich aber eine sehr lange künstlerische Pause gegönnt, Herr Freud“, sagte ich. „Können wir bitte in der Erzählung weitermachen?“
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„Gut Ding will Weile haben“, erwiderte der Psychoanalytiker. „Aber ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Der Name Jean Paul ist Ihnen nicht geläufig, nehme ich an…“
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„Herzlichen Dank, dass Sie direkt von meiner Unwissenheit ausgehen“, antwortete ich leicht brüskiert.
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„Und damit Recht habe…?“ In Freuds Augen funkelte es.
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Da hatte er mich. Wieder einmal. Warum gab es in dieser Geschichte eigentlich so viele verstaubte literarische Anspielungen aus der Mottenkiste? Warum musste ich mittelalterlichen Codices hinterherlaufen, Dante und Dostojewski lesen und mich mit sextraumfixierten Psychodocs herumschlagen? Warum verschlug es mich immer wieder in die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte? Was meinen Sie, liebe Lesenden? Wenn schon Raum und Zeit und Realität und Fiktion durcheinander geraten, warum darf ich dann nicht mit Bibi Blocksberg, Brisko Schneider und Hermione Granger durch Bruchtal fliegen? Oder mit den Gummibären quer durch Westeros hüpfen? Und wo sind die verdammten Avengers, wenn man sie mal braucht? Ich meine, wenn jemand Ahnung hat von Multiversen retten, dann doch bitteschön Tony Stark, Peter Parker, Natasha Romanoff und Co.!
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Nun war es an Sigmund Freud, sich zu räuspern. Ich seufzte. „Na, dann legen Sie mal los, Sie lebendige Wikipedia…“
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< Ende Folge 128: alle Folgen @traumphon >
„Jean Paul, müssen Sie wissen, gehört zu den wohl unterschätztesten deutschen Schriftstellern des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, dozierte Sigmund Freud. „Ich bin ein großer Verehrer seiner Schreibkunst. Ach, wer sein „Leben des Quintus Fixlein“ nicht gelesen hat, der hat nicht gelebt!“
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„Bin bislang ganz gut ohne klargekommen“, merkte ich an.
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„Sie Kleingeist wissen ja nicht, was Sie verpassen!“ gab Freud zurück. „Was für eine komische und gleichzeitig tragische Figur! Diese abergläubische Angst des Protagonisten, dass alle Männer seiner Familie im Alter von 32 Jahren sterben müssen – hoch interessant vom psychoanalytischen Standpunkt! Aber es vermag mich kaum zu wundern – in Ihrem Jahrhundert zählt es ja schon zur Kultur, Männlein und Weiblein ihrer Kleidung entledigt auf eine einsame Insel zu verfrachten und ihnen geifernd beim Kopulieren zuzusehen.“
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„Woher diese plötzliche Angst vor nackter Haut, Herr Professor? Sie wären doch der Erste, der ‚Adam sucht Eva‘ suchten würde. Freilich nur zu ‚Forschungszwecken‘.“
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„Sie gehören also auch zu diesen Menschen, die denken, bei meiner Psychoanalyse ginge es nur um Sex und Muttersöhnchen,“ entgegnete Freud. „Lesen Sie erstmal meine Werke, bevor Sie sie anhand dieser Karikatur von mir urteilen, die sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat.“
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„Erstmal retten wir die Welt. In Ordnung?“
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Freud seufzte: „Das ist wohl der erste vernünftige Satz, der in der letzten halben Stunde aus Ihrem Mund gekommen ist. Also… da saß ich also und blätterte in einem Roman, den es eigentlich gar nicht geben konnte…“
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< Ende Folge 129: alle Folgen @traumphon >
„Nun begab es sich zu einer Zeit, als noch Rittersleut die Lande durchstreiften und das Recht in der Hand derjenigen war, deren Faust am festesten zuschlagen konnte, dass ein Tagträumer namens Maximilianeus das kleine Städtchen Wulferisbuttle bei Braunschweig betrat.
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Die Menschen nahmen wenig Notiz von dem hageren Männlein, das sich weder durch seine Statur noch durch nennenswerte Tugenden hervortat. Weder war es besonders klug noch besonders dumm, besonders geizig noch besonders spendabel, war nicht zu groß und nicht zu klein und nicht zu dünn und nicht zu dick. Ja, man kann durchaus sagen, mit Maximilianeus betrat ein völlig durchschnittliches Wesen diese kleine Stadt, deren Bewohner nicht ahnen konnten, welches Unheil dieser eine Mensch über sie bringen sollte. Am wenigsten aber ahnte es Maximilianeus selbst.“
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„Ähem“, unterbrach ich Sigmund Freuds Nacherzählung jenes unbekannten Buches, das offenbar Jean Paul, ein früher Wegbereiter der literarischen Moderne, geschrieben hatte, und ein weiteres Puzzleteil auf unserem Weg zur Rettung der Welt zu sein schien. „Sie wollen mir jetzt nicht weismachen, dass Sie sich an jedes einzelne Wort, das Sie gelesen haben, erinnern?“
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„Natürlich tue ich das, ich habe ein eidetisches Gedächtnis“, sagte Freud. „Steht das etwa nicht in Ihren Geschichtsbüchern?“
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„Vergessen Sie’s“, entgegnete ich resigniert. „Erzählen Sie weiter, ich bin ja schon still.“
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< Ende Folge 130: alle Folgen @traumphon >
Unser Maximilianeus streifte also durch die Gassen von Wulferisbuttle ohne ein besonderes Ziel zu verfolgen, außer dem, für die Nacht ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit in seinem Magen sein eigen nennen zu dürfen. Vor kurzem erst war sein Onkel verschieden, ein Mann der es mit dem Verkauf von goldfarbener Tinte zu nicht unbeträchtlichem Reichtum gebracht hatte, und der seinem Lieblingsneffen ein prall gefülltes Säcklein an Goldtalern vermacht hatte.
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Maximilianeus hatte dieses unverhoffte Geschenk dankend angenommen, entband es ihn doch von der leidigen und bislang auch erfolglosen Suche nach einer Arbeit, die ihn einerseits ernähren konnte und andererseits seiner geliebten Tagträumerei nicht im Wege stand. Denn nichts liebte der Protagonist unserer Geschichte mehr, als sich ins hohe Gras fallen zu lassen und den Wolken dabei zuzuschauen, wie sie langsam und unbeeindruckt vom menschlichen Gewusel unter Ihnen von dannen zogen. Maximilianeus stellte sich dann häufig vor, selbst eine Wolke zu sein, entstofflicht und schwerelos und unbekümmert von irdischen Sorgen sich vom Wind mal hierhin und mal dorthin treiben zu lassen.
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An diesem Tage aber waren die Wolken zornig geworden und standen so dunkel und düster über dem Land, dass sich der junge Wandersmann entschlossen hatte, in der kleinen Stadt eine Herberge zu suchen.
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Doch just in dem Moment, als er endlich einen geeigneten Gasthof gefunden hatte und ein kühles Bier vor seiner Nase stand, wurde Maximilianeus Zeuge einer gar seltsamen Unterhaltung am Nachbarstisch. .
< Ende Folge 131: alle Folgen @traumphon >
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Ein lumpiger Rittersmann saß dort. Und ihm gegenüber ein altes Weib, die Haare schlohweiß, die Nägel lang und schmutzig. Eine Hexe, kam es Maximileanus in den Sinn – und er scholt sich sofort für diesen hinterwäldlerischen Glauben.
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Aber irgendein seltsamer Spuk umgab diese Frau, die unweigerlich sein Unbehagen erweckte. Lag es an der Kapuze, die sie so weit in ihr Gesicht gezogen hatte, dass ihre Augen nicht zu sehen waren und nur ihre große Nase aus dem Schatten hervorlugte? Oder lag es an ihrer Stimme, die fast ein Krächzen war?
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„Das wird ihm nicht gefallen, nein, nein“, menetekelte das Weib mit unheilschwangererer Stimme und zeigte mit ihrem knorrigen Finger auf ein Beutelchen auf dem Tisch.
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„Ich bin untröstlich“, erwiderte der Rittersmann im Flüsterton. „In dieser kurzen Zeit war es mir beileibe nicht möglich, mehr aufzutreiben“ Seine Stimme senkte sich weiter, als er hinzufügte: „Zumindest nicht, ohne Verdacht zu erwecken.
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Nun muss an dieser Stelle wohl erwähnt werden, dass unser Maximilianeus eine durchaus zweifelhafte Eigenschaft besaß, die ihn seit frühester Kindheit immer wieder in Schwierigkeiten gebracht hatte. Er war von einer unstillbaren Neugier erfüllt, die seine Veranlagung zum Müßiggang noch weit übertraf. Also dürfen wir uns nicht wundern, dass er die Ohren spitzte und seinen Stuhl so unauffällig wie nur möglich näher und näher an besagten Tisch rückte, um dem seltsamen Gespräch als stiller Teilhaber besser lauschen zu können.
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< Ende Folge 132 – alle Folgen @traumphon >
„Das ist nicht mein Problem“, entgegnete die Alte schroff. „Wir hatten eine klare Abmachung und…“
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In diesem Moment schoss die rechte Hand des Ritters urplötzlich nach vorn und klammerte sich fest um das Handgelenk der Frau: „Nein!“ flehte er mit unverhohlener Panik in seiner Stimme. „Ich brauche ihn! Ich brauche den Tr…“
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Noch bevor der Mann das Wort ausgesprochen hatte, verstummte er plötzlich und fror mitten in der Bewegung ein. Die Alte dagegen blieb ganz ruhig, blieb einfach sitzen und schaute dem Mann tief in seine Augen, die nun schreckgeweitet waren. Ein einzelner Blutstropfen rann – einer Träne gleich – aus dem linken Auge seine Wange hinunter. Dann fiel er mit einem laute Rumpeln vornüber mit dem Kopf auf den Tisch und rührte sich nicht mehr.
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Unseren Maximilianeus erschreckte dieses Geräusch so sehr, dass er vor Schreck aufsprang und so die Aufmerksamkeit der Alten auf sich zog.
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„Na, was haben wir denn da?“, fragte sie spöttisch und drehte ihren Kopf langsam in Maximilianeus‘ Richtung. „Hat da etwa jemand gelauscht?“ Die Alte kicherte. „Nun denn, deine Neugier soll belohnt werden. Setz dich!“ sagte sie – und deutete auf den Platz, der noch immer mit der Gestalt ihres nun leblosen Geschäftspartners besetzt war.
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< Ende Folge 133 – alle Folgen @traumphon >
Ihr Lieben! So gerne ich auch täglich am Traumphon geschrieben habe – nun sind erst einmal andere Dinge wichtig: Geldverdienen an erster Stelle leider (muss auch mal sein), Umzugsplanung, die Vorbereitung meines Comicblogs www.siebenaufeinenstrich, das am 9.9. online gehen soll, und auch etwas Freizeit für Gesundheit, Freunde, Festivaleinen und auch etwas Me-Time :) Sobald ich wieder etwas Luft und Laune habe, geht es aber sicher weiter – die Geschichte bleibt nicht unaufgelöst. Bis dann, ihr besten Leser, gehabt euch wohl!
314 Wo.
7. August 2019
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