Für das Bahnmagazin Mobil habe ich Deutschland bereist, auf der Suche nach diesen ganz besonderen Orten, die im Guinnessbuch stehen oder stehen könnten. Meine Heimat in ihren Extremen kennenlernen und darüber schreiben, das war mein Ziel. Erste Haltestelle: Gröde, die einwohnerkleinste Gemeinde Deutschlands.
Mäh, blökt es hinter mir. Ein Schweißtropfen löst sich von meiner Stirn und meine Schritte werden schneller. Mäh. Vor wenigen Augenblicken klang dieses Geräusch noch süß und putzig. Jetzt schwingt eine ernsthafte Drohung mit: Zieh bloß Leine, Fremder!
Was für eine geniale Idee, diese Abkürzung mitten durch die Weide zu nehmen! Ich spüre bohrende Blicke in meinem Rücken. Mäh. Mäh. Mäh. Sie sind hinter dir her, flüstert eine Stimme in meinem Kopf – und gleichzeitig maßregelt mich eine besonnenere für meine Paranoia: Das sind doch nur Schafe, Jens! Friedlich grasende Wollknäule auf staksigen Beinen. Denk an Shaun, Jens, an Sven Bømwøllen!
Ich nehme all meinen Mut zusammen und drehe mich um. Zehn Augenpaare stieren mir direkt ins Gesicht. Mäh. Mäh. Mäh. Sie haben mich fast eingeholt. Ich muss an Hitchcocks Vögel denken. Und renne los.
Rückblende, einen Tag zuvor. Ich renne schon wieder, diesmal aber, um meinen Zug noch zu erwischen. Ein kurzer Spurt, ein Sprung, da höre ich auch schon die schrille Pfeife des Schaffners und die Türen knallen zu. Puh, das war knapp. Aber ein passender Start für meinen Sprung ins Abenteuer. Ich will Deutschland bereisen, auf der Suche nach diesen ganz besonderen Orten, die im Guinnessbuch stehen oder stehen könnten. Meine Heimat in ihren Extremen kennenlernen – und darüber schreiben, so lautet meine Mission. Ziel Nummer eins liegt im hohen Norden; zur dänischen Grenze kann man praktisch rüber spucken. Ich fahre in die kleinste eigenständige Gemeinde Deutschlands. Nächste Haltestelle: Gröde.
Neun Leute leben hier, das haben mir Wikipedia und eine nette Dame beim Bundesamt für Statistik verraten. Außerdem gibt es: eine Schule, eine Kirche, eine Post und – zumindest im Sommer – einen Kiosk. Was es nicht gibt: Supermärkte. „Essen müssen Sie sich selbst mitbringen“, hatte mich Sabine Kolk, Vermieterin meiner Ferienwohnung und 1/9 der Gesamteinwohnerschaft Grödes, vorgewarnt. Denn einfach so in den nächstgrößeren Ort fahren – das geht nicht. Gröde ist nicht nur Deutschlands kleinste Gemeinde nach Einwohnern, sondern auch eine Hallig, die vier Kilometer vom Festland entfernt im Wattenmeer liegt.
Was das bedeutet, merke ich schon bei der Anreise. Wer nach Gröde will, muss planen – vor allem, wenn der Sommer und mit ihm die Zeit der Tagestouristen noch nicht angebrochen ist. Mit dem Zug fahre ich bis Bredstedt, dann steige ich ins Taxi um. Der Linienbus fährt leider erst morgen – aber morgen, da gibt es keine Fähre. Winterfahrplan, erklärt mir ein Busfahrer achselzuckend. Am Fähranlieger Schlüttsiel angekommen grasen ein paar Schafe auf dem Deich. Sollte ich wirklich der einzige Mensch sein, der heute übersetzt?
Mein Blick schweift über das Wasser. Ganz hinten, vom Nebel fast verschluckt, ragen zwei Hügel aus den Fluten. Warften, korrigiere ich mich innerlich. Auf der einen, der Knudtswarft, stehen vier Wohnhäuser , auf der anderen, der Kirchwarft, befinden sich Schule, Kirche und Lehrerwohnung, alle in einem einzigen Gebäude. Auf den Warften können die Bewohner der Hallig sicher wohnen, der tiefer liegende Rest wird in der stürmischen Jahreszeit bis zu 30 Mal vom Meer verschluckt.
Und dann kommt sie tatsächlich, die Fähre. Größer ist sie, als ich es mir in der Fantasie ausgemalt habe. Macht aber Sinn: Im Sommer muss die „SeeAdler“ nicht nur jene Touristen fassen, die für ein Stündchen auf Gröde herumspazieren wollen, sondern auch solche, die auf ihre größere und berühmtere Schwester Hooge übersetzen. Heute bleiben die meisten Plätze leer. Eine Schulklasse von Usedom kommt in letzter Minute per Charterbus an. Aber die wollen weiter nach Hooge, Facharbeit schreiben. Einzig ein Pärchen aus Frankfurt/Main wird mich nach Gröde begleiten. Die beiden sind Wiederholungstäter, fahren bereits zum dritten Mal auf die Hallig. Zehn Tage Landflucht, zehn Tage Abstand von der Hektik des Alltags. Warum gerade Gröde? Ein Versehen, erklärt der Mann lachend. Eigentlich hatte er damals nach Hooge gewollt, in eine Ferienwohnung namens Gröde. Fortuna hat wirklich Humor, denke ich.
Bevor wir ablegen, heißt es aber erst einmal anpacken. Bananenkisten voller Süßigkeiten und säckeweise Schaffutter tragen sich nicht von selbst an Bord. Und ein Sofa erst recht nicht. Ich stutze. Steht dort tatsächlich ein Sofa am Ufer? Tatsache. Sabine Kolks Mann Jürgen hat das Sitzmöbel für sein Wohnzimmer erstanden, mir sichert es die wohl bequemste Bootsfahrt meines Lebens.
Und sogleich lerne ich die nächste Lektion der Halligbewohner kennen: Gelassenheit gegenüber den Dingen, die sich nicht ändern lassen. Den niedrigen Wasserstand zum Beispiel, der uns daran hindert, Gröde anzulaufen. Aus einer halbstündigen Überfahrt werden so 2 1/2 Stunden. Eigentlich ein perfekter Zeitpunkt, um erste Kontakte zu knüpfen. Aber die See fasziniert zu sehr. Immer wieder treibt es mich nach draußen, die Luft schmeckt salzig, wir brausen dem Sonnenuntergang entgegen. Ich bin der König der Welt, denke ich, vermeide es aber tunlichst, die entsprechende Geste nachzustellen. Seriosität bewahren, Jens.
Als wir Gröde anlaufen, ist es stockfinster. Zwei Traktoren stehen bereit, das Gepäck – und mich – in Empfang zu nehmen. Zusammen mit den Bananenkisten und Futtersäcken mache ich es mir auf dem Anhänger bequem, wieder auf meinem liebgewonnenen Sofaplatz. Dann knattern wir durch die Nacht in Richtung Knudtswarft. Die Scheinwerfer schneiden durch das Dunkel. Ich fühle mich wie in einem Agatha-Christie-Krimi. Eine abgeschiedene Insel. Tiefschwarze Nacht. Eine Handvoll Menschen. Nur die Leiche fehlt. Noch.
Vielleicht ist es ja jetzt soweit, denke ich, als meine Gedanken zurück ins Hier und Jetzt, zurück auf die Schafwiese, wandern. Doch meine wolligen Verfolger lassen mich noch einmal davonkommen. Kein Kommissar, der in der nächsten Woche meine kümmerlichen Reste aufklauben und Ermittlungen aufnehmen muss. Mäh. Auf einmal hat das Blöken etwas Spöttisches. Ich sende ein Stoßgebet gen Himmel, dass mich kein Mensch bei diesem unwürdigen Sprint beobachtet hat.
Meine Chancen stehen gut. Zwei Stunden bin ich heute Morgen über die Hallig geschlendert – doch von den neun Einwohnern oder meinem Touristenpärchen keine Spur. Es ist so ruhig hier, denke ich, aber das stimmt nicht.
Die Möwen kreischen, und wenn man sich der Küstenlinie nähert, hört man das Meer rauschen. Es ist die Abwesenheit von Zivilisationsgeräuschen, die mir wie Stille vorkommt. Keine dröhnenden Automotoren, kein Menschengeplapper. Ich atme übertrieben bewusst ein und aus. Hach, die gute Luft. Zwei Minuten später schaue ich auf mein Smartphone und checke, ob schon jemand meine Schnappschüsse aus der Wiege der Natur kommentiert hat.
Zurück auf der Knudtswarft hoffe ich auf eine Cola. Aber noch ist Monika Mommsens Kiosk nicht eingeräumt.
Eigentlich verrückt, denke ich und blicke in mein Portemonnaie. Ein 50-Euro-Schein schaut zurück. So schnell bist du wieder nur ein Stück nutzloses, bedrucktes Papier, denke ich. Monika Mommsen ist 1964 mit ihrem Mann Volker auf die Hallig übergesiedelt. Aus Berlin, ausgerechnet. „Von der einwohnergrößten in die einwohnerkleinste Gemeinde“, lacht sie. Ob sie es jemals bereut hat? Ob sie es nicht manchmal langweilig findet? Ich weiß, dass diese Frage bescheuert ist, muss sie aber trotzdem stellen. Ihr Blick sagt alles.
Monikas Mann Volker ist über einem Vierteljahrhundert Bürgermeister von Gröde. Aber den Hut, den haben sie alle gemeinsam auf. Eine Gemeinde mit neun Menschen braucht keine Gemeindevertretung. Man trifft sich im Wohnzimmer und beschnackt, was beschnackt werden muss. Auf den Rekord könnte Volker Mommsen allerdings gut verzichten. Vor sechs Jahren hatte Gröde noch 17 Einwohner, dann schlug die Demografie zu. Seit vier Jahren stehen Schule und Lehrerwohnung leer.
Angst davor, dass seine Heimat irgendwann verwaisen könnte, hat Mommsen aber nicht. Es war schon immer so: Ältere Menschen starben oder zogen von Gröde fort, Kinder wurden erwachsen und suchten sich Arbeitsplätze auf dem Festland. Aber immer wieder kamen auch neue Bewohner dazu.
Und hier enden die Vergleiche mit den Inselkrimis. Gröde ist eben nicht in der Zeit stehengeblieben – hier leben keine eigenbrödlerischen Menschenfeinde, die den Ausstieg aus der Zivilisation propagieren. „Dann und wann frisches Blut und neue Perspektiven tun uns gut“, sagt Bürgermeister Mommsen. Und ja, natürlich muss er das sagen, aber man glaubt es ihm auch. Weil das WLAN hier schneller ist als in meiner Wohnung in Hamburg. Und weil Menschen wie Annabelle Fürstenau da sind.
Annabelle ist so alt wie ich, 1981 geboren, und damit die jüngste Bewohnerin der Hallig. Seit zwei Jahren lebt die Fotokünstlerin hier, zunächst im Rahmen einer Projektförderung des Landes, doch dann verliebte sie sich in das kleine Fleckchen Land, blieb und bloggt seither über ihre Zeit auf der Hallig.
Wir schnacken in ihrem kleinen Garten über die Faszination dieses Ortes. „Man erlebt die Jahreszeiten viel bewusster“, erzählt sie mir. Besonders angetan hat ihr das erste Mal Land unter im Herbst „wenn es scheint, als hätte das Wasser alle Farben aus der Landschaft gesaugt.“ Aber natürlich gab es eine Eingewöhnungsphase – vor allem, was die ganze Planerei betrifft. Einfach mal zum Supermarkt, das geht auf Gröde nicht. Man bestellt bei einem Supermarkt auf dem Festland, einmal pro Woche bringt die Fähre den Einkauf vorbei. Und für den Winter braucht man Vorräte – schließlich kann es immer passieren, dass das Meer vereist und Gröde für Wochen nicht angelaufen werden kann.
Ob ihr Leben auf Gröde längerfristig möglich ist, muss Annabelle aber noch herausfinden. Geld verdienen im Küstenschutz, wie es die meisten Männer auf Gröde machen, sitzt bei ihr körperlich nicht drin. Aber gerade hat sie auf eBay eine Kioskbude erstanden, ein Schnäppchen für 150 Euro. Im Sommer möchte sie selbstgebranntes Geschirr an Touristen verkaufen.
Nicht planbar hingegen ist die Sache mit der Gesundheit. „Wer auf Gröde lebt, der muss auch ein gewisses Risiko in Kauf nehmen“, sagt Bürgermeister Mommsen. Zwar braucht der Rettungshubschrauber nur zwanzig Minuten vom Festland bis zur Hallig, kritisch wird es allerdings bei Nacht oder wenn die Wetterbedingungen einen Start unmöglich machen. „Da gab es schon ein paar hochdramatische Situationen.“ Aber bislang – toi, toi, toi, – sei noch immer alles glimpflich ausgegangen.
Ich male mir aus, wie es wäre, diese Hilflosigkeit zu spüren – und merke, dass ich das nicht will. Das ist es. Das ist der Dealbreaker, der Grund, warum ich niemals auf Gröde leben könnte. An die Versorgungslage könnte sich mein Chaos-Ich gewöhnen, es gibt schnelles Internet, die Menschen sind supernett – und mit den Schafen würde ich sicher auch noch Freundschaft schließen. Aber Wasser hat eben keine Balken. Wie war das noch bei den beiden Königskindern? „Sie konnten zusammen nicht kommen. Das Wasser war viel zu tief.“
Erschienen als Teil 1 meiner Reportagereihe „Deutschland extrem“ auf dbMobil im April 2015 (Archivlink, kompakte Infos zu Gröde findet ihr aber hier auf der neuen mobil.deutschebahn.com-Seite).
Gröde im WWW
Ferienwohnungen auf Gröde mieten
Warftworte: Blog von Annabelle Fürstenau
Der Jahreslauf auf Hallig Gröde: Blog von Familie Kolk
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