“Jenseits”: grausam, putzig, verstörend schön

Ich bin wirklich nicht zimperlich. In den Comics, die ich lese, spritzt das Blut gerne mal fontänenweise durch die Panels. Menschen werden geköpft oder stolpern als halb verfaulte Zombies durch die Gegend. Ein totes Mädchen sollte mich also nicht mehr verstören. Auch dann nicht, wenn es langsam auf einer Waldlichtung verwest und ihm kleine, menschenähnliche Wesen aus Ohren, Mund und Nase kriechen. Verdammt niedliche kleine Wesen übrigens.

Ihr hört richtig. Und dabei befinden wir uns gerade erst auf Seite 8 von „Jenseits“, dem meiner Meinung nach besten Comic, der in den vergangenen fünf Jahren erschienen ist. Es ist eine seltsame Welt, die das französische Zeichner-Duo Kerascoët (Marie Pommepuy und Sébastien Cosset) und Szenarist Fabien Vehlmann da erschaffen haben. Eine Welt, in der sich kindliche Unschuld, kindliche Neugier und kindliche Grausamkeit die Hände reichen. Eine Welt, die wir Erwachsenen nur noch schwer verstehen, weil wir uns nur noch schwer vorstellen können, wie nah Bonbonrosa und Alptraumschwarz in unserer Kinderzeit beieinander lagen.

Irgendwann platzt die Wut aus Aurora heraus - mit schlimmen Folgen für ihren tierischen Freund

Grausam wie ein Kind

Es ist vor allem dieser Widerspruch, der verstört. Das putzige Aussehen der Däumlinge, deren Leben (und Sterben!) wir im Laufe dieses Bandes verfolgen und ihr grausames Verhalten zueinander. Seite 8 ist der erste, der entscheidende Schlag ins Gesicht. Der maximale Schock, nicht nur für den Leser, sondern auch für die kleinen Wesen, die zuvor im Körper des toten Menschenmädchens gewohnt haben und nun in einer völlig fremden Umgebung überleben müssen.

Manieren hat er ja, der Hektor.

Denn Armageddon kommt völlig unerwartet, mitten beim Kaffeekränzchen. Märchenprinz Hektor ist erschienen, um Aurora, einer jungen Däumlings-Dame, seine Aufwartung zu machen. Neben Kuchen und Trinkschokolade werden vor allem gute Manieren gereicht. Man siezt sich und wahrt die Etikette, doch als die Lippen zum ersten Kuss geschürzt werden, fällt den Turteltäubchen der Himmel auf den Kopf. Besser gesagt: Er platscht ihnen direkt in die heiße Schokolade. Und dann nimmt das Unvorstellbare seinen Lauf: Die Heimat der Däumlinge löst sich auf – in dicke, schleimige, stinkende Tropfen. Der einzige Ausweg: die Flucht nach draußen, ins Unbekannte, in die Welt der Menschen und der Tiere.

Doch das Leben geht weiter. Man richtet sich ein – in und unter der Leiche, die im Laufe der Geschichte immer stärker verwesen wird. Aurora versucht zu helfen so gut es geht, doch schon bald breiten sich Neid, Missgunst, Mobbing und das Recht des Stärkeren in der Gesellschaft der Däumlinge aus.

Jensseits-Cover

Däumlinge werden ihren Artgenossen schlimme Dinge antun, gegen die die Schreckensherrschaft der Jäger im „Herrn der Fliegen“ wie eine wonnige Gutenachtgeschichte anmutet. Und auch Aurora, die es eigentlich nur gut meint, gerät immer mehr zur Außenseiterin. Doch irgendwann ist das Maß voll und das kleine, nette, putzige Mädchen – müde geworden von der Schlechtheit der Gesellschaft – spinnt die ultimative Rachefantasie.


„Jenseits“ ist 2009 im Reprodukt-Verlag erschienen und stammt vom französischen Zeichner-Duo Kerascoët (Marie Pommepuy und Sébastien Cosset) und dem Szenaristen Fabien Vehlmann.

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Getextet ursprünglich 2014 für meinen stern.de-Comic-Blog „Vom Leben gezeichnet“ (Archiv). Cover & Panels: © Reprodukt

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