Wie Optimus Prime mir den Tod erklärte

Als kleiner Junge habe ich mir oft gewünscht, dass mein Vater ein bisschen mehr sein könnte wie Optimus Prime. Das war natürlich nicht ganz fair. Weder hatte mein Vater Kampferfahrung in einem intergalaktischen Roboterkrieg, noch konnte er sich durch reine Willenskraft in ein Auto verwandeln.

Aber Optimus Prime, dieser heldenhafte Anführer der Autobots, verkörperte einfach alles, was man sich als kleiner Junge nur so von einer Vaterfigur wünschte. Er kämpfte im Namen des Guten, für die Schwachen und gegen die Bösen, war weise, mutig und stark und hatte auf jede Frage die richtige Antwort parat. Und ja, er war ein Roboter, der sich in einen wahnsinnig coolen US-Truck verwandeln konnte! Was will ein Achtjähriger mehr?!

Der Held aus dem Privatfernsehen

Zum ersten Mal begegnete mir dieser Gutroboter vom Planeten Cybertron im Fernsehen, bei RTL. Wir hatten gerade erst Privatfernsehen bekommen – und was dort gezeigt wurde, war so viel spannender als diese lahmen Heidi-Cartoons im ZDF: Saber Rider. Thundercats. Und natürlich: Transformers – eine Zeichentrickserie über sprechende Roboter, die sich in Autos und Flugzeuge verwandeln. Ich war sofort süchtig.

Jeden Samstag schlich ich mich frühmorgens ins Wohnzimmer, um zu sehen, wie Optimus Prime die Erde gegen seinen Erzrivalen Megatron, den Anführer der Decepticons, verteidigte. Weil wir keinen Videorekorder besaßen, ich die Serie aber trotzdem aufnehmen wollte, musste ich in die Trickkiste greifen: Ich schob einen Küchenstuhl ganz nah an den Lautsprecher unseres Fernsehers, packte erst einen Hocker und dann meinen Kassettenrekorder darauf und drückte, wenn der Vorspann begonnen hatte, die rosarote Aufnahmetaste. Woche für Woche legte ich mir so mein eigenes Transformers-Privatarchiv an – zwar nur als Kassettenaufnahme, aber immerhin. Mein Wellensittich liebte die Transformers übrigens auch: Bei jeder lauten Kampfszene fing er begeistert an zu trällern – was mir mehr als eine Aufnahme ruinierte.

Und plötzlich wurde es düster…

So dauerte es nicht lange, bis ich meinen ersten Transformers-Comic in den Händen hielt: Doch während in der TV-Serie ein locker-flockiger Ton vorherrschte und nie jemand ernsthaft zu Schaden kam, waren die Comics düsterer: Die Decepticons, in der Serie lachhafte Gestalten, wurden plötzlich zu tödlichen Killern. Und meine Helden starben – von Laserstrahlen zerfetzt, ihre innerste Elektronik von bloßen Händen ausgeweidet. (Hier die zehn verstörendsten Transformers-Tode von „Topless Robots“) Dass die Roboter so viel menschlicher gezeichnet waren als im Zeichentrick, machte die Sache noch viel gruseliger.

Selbst mein großer Held war plötzlich nicht mehr unverwundbar – und starb schließlich einen grausigen Tod! Die Szene, in der Primes‘ Körper von innen heraus gesprengt wurde, bereitete mir tagelang Alpträume. Meinen Eltern erzählte ich nichts, ich hatte Angst davor, sie würden mir die Hefte wegnehmen. So komisch es klingt – in den Transformer-Comics war mir der Tod zum allerersten Mal begegnet. Und hatte gezeigt, dass wirklich jeder sterben kann. Selbst Optimus Prime. Selbst meine Eltern. Selbst ich.

Das Schlimmste aber war: Im nächsten Comic wurde der Tod meines Helden nicht aufgegriffen, sondern eine ganz andere Geschichte erzählt. Erst viel später sollte ich herausfinden, dass der deutsche Condor-Verlag für seine Hefte wahllos Material aus britischen und US-amerikanischen Marvel-Geschichten zusammenstückelte. So brachen Erzählungen manchmal mitten in der Handlung ab und wurden erst Monate später, meistens aber nie fortgesetzt.

Jäger der verlorenen Geschichten

Das frustrierte mich einerseits, verlieh den Transformers-Comics aber auch eine seltsame Aura des Geheimnisvollen. Überall, wo ich konnte, suchte ich fortan nach den „fehlenden“ Geschichten, begierig darauf, zu erfahren, wie es weiter geht. Auf einem Flohmarkt in Oldenzaal, einer kleinen Gemeinde in den Niederlanden, wurde ich schließlich fündig. Der niederländische Verleger der Transformers-Comics war etwas sorgsamer mit den Geschichten umgegangen und hatte sie in der richtigen Reihenfolge veröffentlicht. Dass Autobots und Decepticons nun Niederländisch sprachen, nahm ich in Kauf. Und bat meine Eltern, die angesichts meiner Leidenschaft für diese „Roboterdinger“ nur noch mit dem Kopf schüttelten, um ein Wörterbuch.

Auf diese Weise erfuhr ich schließlich, dass mein großer Held keineswegs für immer gestorben war: Ein findiger Mensch hatte Optimus Primes „Bewusstsein“ heimlich auf einer Floppydisk (!!!) gespeichert und später in einen neuen Körper geladen. Ich hatte es doch immer gewusst: Wenn einer dem Tod ein Schnippchen schlägt, dann Optimus Prime, der große Held meiner Kindheit.

Gedankenschnipsel

  • Transformers-Fans wissen, dass Optimus Prime im Laufe der Zeit noch sehr, sehr, sehr, sehr viele Tode sterben und auf sehr, sehr, sehr, sehr kreative Arten wiederbelebt werden sollte. Den allermeisten ist wahrscheinlich die diese Szene aus dem Zeichentrick-Kinofilm von 1986 im Gedächtnis geblieben, bei dem auch viele von Primes Autobot-Mitstreitern einen gruseligen Tod fanden. Das grausame Tabularasa unter den Robotern hatte übrigens rein wirtschaftliche Gründe: Man wollte in der Serie einfach Platz machen für neue Figuren, die bald verkauft werden sollten. Für alle morbiden Optimus-Freunde hat „TFwiki.net“ einmal ganz genau nachgezählt.
  • Heute ist es dank Internet und Amazon sehr viel einfacher, an die alten Originalhefte zu kommen. Mein Favorit ist diese besonders schöne Sammelausgabe von IDW Publishing, dem Verlag, der Marvel die Rechte an der Serie abgekauft hat.
  • 21 Jahre nachdem die erste Transformers-Comic-Reihe (heute als Generation One bezeichnet) von Marvel eingestellt wurde, durfte Chefautor Simon Furman noch einmal ran: In der Serie „Regeneration One“ nimmt er die Handlung dort wieder auf, wo er sie 1991 mit Ausgabe 80 abbrechen lassen musste. Insgesamt sind 22 neue Hefte erschienen, allesamt noch weitaus brutaler und tödlicher, als es die Vorgängercomics waren. Ende März 2014 ist mit Nummer 100 die allerletzte Ausgabe erschienen.

Getextet ursprünglich 2014 für meinen stern.de-Comic-Blog „Vom Leben gezeichnet“ (Archiv). Cover & Panels: © Reprodukt

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