Leiko Ikemura: Wanderin in Zwischenwelten

Ost? West? Egal. Die Künstlerin Leiko Ikemura ist in beiden Welten zuhause – und beiden Welten manchmal fremd. Ein Gespräch über die Sehnsucht nach Selbstbestimmtheit, die Vorteile von Zweifeln und die Reintegration der eigenen Vergangenheit in die Jetztzeit.

Eingang Atelier Ikemura
Innenhof

Wie täuschend doch erste Eindrücke sein können! Zum Beispiel der, wenn wir das Atelier von Leiko Ikemura betreten: Nackter, rauer Beton dominiert die Räume; klare Kanten und Linien bestimmen die Architektur des fünfstöckigen Hauses in Berlin-Kreuzberg, das der Künstlerin und ihrem Partner, dem Architekten Philipp von Matt, auch als Wohnung dient.

Ikemura

Von außen fällt nicht auf, dass in diesen Räumen eine der bedeutendsten japanischen Künstler dieser Tage lebt. Was auch damit zu tun hat, dass es Ikemura schwer fallen würde, sich selbst so zu titulieren. Die 1951 in Japan geborene Frau mag es nämlich gar nicht, wenn sich Menschen zu wichtig nehmen. Dieses Ego-Ding, das so manch anderer Künstler fährt und kultiviert, fehlt bei ihr völlig. Stattdessen treffen wir im lichtdurchfluteten Erdgeschoss des Hauses auf eine angenehm unprätentiöse Frau; eine, die nicht laut sein muss, um ihre Präsenz wirken zu lassen.

Ikemura Atelier

Wie sehr dieser Raum, der in seiner schlichten Ausgestaltung beinahe sakral anmutet, den Geist Ikemuras atmet, wird uns bewusst, als sich die Künstlerin für einen Moment entschuldigt. Wir flüstern miteinander – obwohl doch niemand anwesend ist, der sich von unserem Gespräch stören lassen könnte. Trotzdem fühlt sich das Bedürfnis, ruhig zu sein, nicht wie ein mahnendes Gebot an, sondern wie eine Einladung, zur Ruhe zu kommen.

Atelier Ikemura

Betrachtet man nun die zahlreichen Skulpturen und Gemälde, die an Ort und Stelle zu sehen sind oder noch ihrer Fertigstellung harren, sticht ein krasser Kontrast ins Auge: So aufgeräumt und klar der Raum, so ätherisch ihre Kunst: Hier überwiegt die Lust am Uneindeutigen, das Spiel mit den Möglichkeiten und Verschwommenen.

Ikemura Plastik

Dieses Gefühl einer märchenhaften Otherworldlyness ist hineingebacken in alle Facetten ihrer Arbeiten, diese Möglichkeit, dass Ikemuras Werke auch Tore zu einer anderen Welt sein könnten. Tore, die wir freilich nicht durchschreiten, sondern nur erahnen, nur erspüren können. Es würde auch nicht überraschen, kröchen die Little People aus Haruki Murakamis Roman „1Q84“ des Nachts aus den Mündern ihrer Skulpturen und hinter den Leinwänden ihrer Gemälde hervor.

Ikemura

In ihren Landschaftsmalereien etwa führt die Künstlerin den Pinsel derart sanft, dass die Konturen hauchzart bleiben, ineineiner fließen und ihren Grenzcharakter verlieren. Fließend bleibt auch die Identität ihrer anthropomorphen Plastiken: Es sind hybride Wesen, die ihrem Aussehen nach leicht den Fantasien des großen Anime-Künstlers Hayao Miyazaki entsprungen sein könnten – verspielt, ein bisschen frech, und gleichzeitig doch von der Würde und Gravitas eines religiösen Totems umgeben. Wer nun die Frage beantwortet bekommen will, ob es sich bei diesen Figuren um Menschen oder Tiere, um weibliche oder männliche Wesen handelt, erhält eine lächelnde Gegenfrage: „Warum muss es denn das eine oder das andere sein?“

Ikemura

Ja, dem Hang der Menschen, Dinge endgültig definieren zu wollen, hat Ikemura seit jeher den Kampf angesagt. Und obwohl das Wort ‚Kampf‘ ein wenig zu harsch klingen mag für ihr Wesen, beschreibt es doch recht gut den Lebensweg einer Frau, die sich auf eine lange Reise begeben hat, sich aber nirgendwo hundertprozentig assimilieren konnte und wollte. Eine, die bis heute Reisende im Geist geblieben ist, auch wenn sie mittlerweile zwei feste Wohnsitze in Berlin und Köln ihr eigen nennt.

Atelier

Wer dies verstehen will, muss einen Blick in die Vergangenheit werfen: Ihren ersten und wohl wichtigsten Schritt tut Ikemura, als sie mit 21 Jahren ihre Heimat Japan verlässt. Oder sagen wir besser: verlassen muss. Denn obwohl diese Entscheidung durchaus selbstbestimmt erfolgt, ist sie auch eine Flucht vor einer Gesellschaft, die unglaublich starr und hierarchisch, chauvinistisch und patriarchalisch geprägt ist. „Im Nachkriegsjapan zählte nur Produktivität und die Wirtschaft, die Frau aber wenig,“ erinnert sich Ikemura. Möglichst selbstbestimmt leben, das war ihr erstes Ziel – noch vor der Kunst, in die sie dann – man darf es ruhig so flapsig ausdrücken – hineingerutscht ist.

Ikemura

Englisch studieren damals alle, also setzt die junge Frau auf Spanisch. Und so geht ihre Reise ausgerechnet nach Spanien, ein Spanien, das damals noch in den Klauen des Diktators Franco steckt! Aber Ikemura findet ihre Freiräume und nutzt sie, taucht in die Künstlerszene des Landes ein, bis ihre Reise 1979 weiter geht nach Zürich. Ein Jahr später entstehen die ersten Gemälde, die Ikemura als zeigbar erachtet, es folgen erste Ausstellungen in Bonn und 1985 der Umzug nach Köln, wo sich ihr Schaffen mehr und mehr der Skulptur zuneigt.

Ikemura

Was für ein Unterschied das war, dieser Sprung nach Nordeuropa: Ein freieres Denken war nun möglich, aber die Stimmung wurde auch intellektueller. Und so mancher trug die eigene Nase durchaus etwas zu hoch, das eigene Ego etwas zu breitbeinig zur Schau. Ikemura vermisste die Bodenhaftung, das Erdige, das Nicht-Abgehoben-Sein.

Ikemura

Diese Sehnsucht nach Erdung ist Ikemura bis heute geblieben und findet Ausdruck in ihrer Freude am Material per se. Eine Fremdproduktion ihrer Plastiken kommt für die Künstlerin deshalb nicht in Frage. Sie muss das Material höchstpersönlich bearbeiten, jeden Schritt erfühlen und erspüren. „Soll euer Deich sich halten, so muss etwas Lebiges hinein!“ wissen die Küstenbewohner in Storms „Schimmelreiter“ – und etwas Lebiges, ein Teil von ihr, bleibt auch in Ikemuras Skulpturen und Gemälden zurück.

Ikemura

Was bleibt, ist trotz allen Lobs ein leiser Zweifel, ein ständiges Sich-Selbst-Hinterfragen und der Wunsch, es beim nächsten Mal besser, anders, zu machen. Wer hierin aber eine Schwäche sieht, hat Ikemura nicht verstanden. Im Gegenteil, dieser letzte Zweifel ist der Motor, der die Künstlerin antreibt. „Warum“, fragt Ikemura, „ist da diese inhärente Wertung? Warum das Selbstsichere, das Laute so positiv belegt und warum der Zweifel negativ?“

Ikemura

Zwar hat die Kunsthalle Rostock Leiko Ikemura im letzten Jahr eine Retrospektive geschenkt, aber auf die Frage, ob es das jetzt schon war, kann sie nur lachen. „Von wegen, ich fange gerade erst an“, sagen die Augen der 68-Jährigen amüsiert und herausgefordert funkelnd. Die Retrospektive will sie dementsprechend nicht als Rückschau in die Vergangenheit verstehen, sondern als einen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der Neues, Unvorhergesehenes und Überraschendes hervorbringt – auch für sie selbst „Ich habe meine alten Werke in ganz neuem Licht wertschätzen können“, sagt Ikemura heute – obwohl sie in der Vergangenheit durchaus mal zweifelte, ob „das von früher“ überhaupt noch ausstellungswürdig sei.

Ikemura

Nein, in diesem Geist steckt noch so viel Neugier, so viel stille Energie, zu schaffen, weiter zu gehen, und neu zu experimentieren. Als wir uns verabschieden, bricht sich das Licht der späten Nachmittagssonne in einer Skulptur, die so neu ist, dass wir sie noch nicht fotografieren dürfen. „Meine allererste Arbeit mit Glas!“ sagt Ikemura – und strahlt.

Ikemura

Leicht verändert erschienen in der Ausgabe 9/2020 des Magazins Cicero (hier kaufen).

Ikemura


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