Im Passauer Stephansdom steht die größte Domorgel der Welt. Ich habe mich mit dem Mann getroffen, der dort alle Register zieht: Domorganist Ludwig Ruckdeschel.
Ausgerechnet im November! Einen schlechteren Termin, die weltgrößte Domorgel zu besuchen, gibt es wohl nicht. Die täglichen Mittagskonzerte ruhen in diesem Monat, die Adventskonzerte stehen noch bevor. Und trotzdem sitze ich jetzt hier, mitten in der barocken Pracht des Stephansdoms zu Passau, und lausche zunehmend irritiert den Geräuschen, die von der Empore an mein Ohr dringen: Anstatt mich mit Max Regers „Te Deum“ oder Bachs Choral „An den Wasserflüssen Babylons“ zu verwöhnen, stöhnt sich die Königin der Instrumente quälend langsam durch die Tonleiter. Eine Enttäuschung, ja, aber eine Notwendigkeit, wie mir Domorganist Ludwig Ruckdeschel erklärt.
Wenn die Tage kürzer und kühler werden, braucht das ehrwürdige Instrument wieder einmal Feintuning von Menschenhand. Die Kälte zieht ins Holz, lässt die Labialregister der Orgel tiefer klingen. Um diese Schwankung auszugleichen, müssen die feststehenden Zungenregister angepasst werden. Und genau deswegen begeben wir uns jetzt nicht auf den Orgelboden und lauschen den Improvisationen des Maestros, sondern wandern ein paar Treppenstufen höher in den Übungsraum des Domchores. Dort ist es zumindest ruhig. Und warm.
229 Register, 17.974 Pfeifen
Zum Scheitern verurteilt ist hingegen mein Vorhaben, zuvor noch einen Snack aus dem Automaten am Treppenaufgang zu ziehen: Statt Twix oder Raider hält die kantige Maschine Audio-CDs mit Konzertaufnahmen und Touristenbüchlein rund um jenes Instrument bereit, das noch bis Ende der 1990er als größte Kirchenorgel der Welt galt. Diesen Rekord hat ihr mittlerweile die Cadet Chapel der US-Militärakademie West Point streitig gemacht. In Passau nahm man den Verlust sportlich. Bewirbt man nun eben die „größte Domorgel der Welt“.
Wer hier alle Register ziehen will, der meint es wiklich ernst: 229 besitzt das Instrument aus dem Hause Eisenbarth, dazu vier Glockenspiele. Die größte der insgesamt 17.974 Pfeifen misst 10,09 Meter Körperlänge, die kleinste kommt auf 5,5 Millimeter. Eigentlich haben sie ein wenig geschummelt, denke ich. Wenn man es genau nimmt, besteht das Instrument nämlich aus fünf verschiedenen Orgeln, die über einen Hauptspieltisch zusammengeschaltet werden können. So ermöglicht der Aufbau nicht nur Klangfarben vom Vorbarock bis hin zur Moderne, sondern auch einen ganz besonderen Rundum-Raumklang. „Fast wie Dolby-Surround“, sagt Ludwig Ruckdeschel.
Für den Organisten ist das Chance und Herausforderung gleichzeitig. Jede der fünf Orgeln, so verrät er mir, besitze ihre eigene Persönlichkeit. Um diese spezielle Anlage zu verstehen, auf ihr spielen zu können, brauche es schon Kreativität und Fantasie. „Mit dem üblichen Lehrbuchwissen von der Universität kommt man nicht weit.“
Frühe Inspiration
Dass der Mann vor mir das nötige Rüstzeug mitbringt, bezweifele ich keine Sekunde. Er war zwölf, als ihn die Orgel zu sich rief, einer Sirene gleich. Walther Rudolph Schuster spielte damals, und es muss gut gewesen sein, was der Passauer Domorganist den Pfeifen entlockte. Zumindest stand der Berufswunsch des Jungen danach felsenfest: Die Orgel wollte er lernen. „Das hat mich irgendwie gepackt, mich nimmer losgelassen“, erinnert er sich heute. Und daran, dass dieser Wunsch alles andere als selbstverständlich war unter seinen Altersgenossen. „Der Organist“ wurde er manchmal gerufen – und wie Ruckdeschel es heute erzählt, kann man sich gut vorstellen, dass ihn dieser Rufname schon als Bub ein wenig stolz gemacht hat.
Die Jahre haben es gut gemeint mit meinem Gesprächspartner: Als ich nach unserem Treffen durch das Booklet einer Konzertaufnahme von 2004 blättere, erkenne ich den heute 47-Jährigen kaum wieder: Schwarze, brav gescheitelte Kurzhaarfrisur trug der frischgebackene Domorganist damals, gestreiftes Hemd und Krawatte, vom Kleidungsstil eher Typ Sparkassenangestellter. Eine Dekade später hat Ruckdeschel den eher biederen Look gegen diese ganz spezielle Aura getauscht, wie sie wohl nur richtig gute Musiker und Künstler umgibt. Sein Bewusstsein für das eigene Können ist gewachsen ohne in Arroganz abzugleiten. Er trägt jetzt Bluejeans, zerschlissen, aber mit einer nonchalanten Würde, als handele es sich um eine Maßanfertigung vom teuersten Schneider der Stadt. Auch die Haare sind länger geworden, wallender.
Der Organist ist Perfektionist
Die Liebe zur Perfektion, die war allerdings schon immer vorhanden – und hätte ihn fast um die Chance seines Lebens gebracht. Ruckdeschel hatte sich durch die ersten Runden des Auswahlverfahrens gekämpft, ein Wettbewerbsspiel sollte darüber entscheiden, welcher der verbliebenen Kandidaten künftig in Passau spielen dürfte. Doch weil die vorgegebene Einspielzeit sehr kurz war und der Organist fürchtete, nicht die volle Leistung bringen zu können, wollte er lieber gar nicht antreten. Es brauchte ein Machtwort der Eltern, um ihn umzustimmen. Und wie so oft im Leben lagen die Eltern richtig: Ihr Sohn fegte seine Mitbewerber hinfort. Einstimmig entschied die Kommission für den jungen Virtuosen. „Manches ist wohl auch ein Stück Fügung, das sollte wohl so sein“, sinniert Ruckdeschel rückblickend. Denn die Stelle an seiner Lieblingsorgel war völlig überraschend frei geworden – aus schönen Gründen übrigens: Ruckdeschels Vorgänger hatte eine Stelle im Münchener Dom angenommen.
Ich würde ihn gerne fragen, ob er mir etwas vorspielt, bin aber sicher, der Organist würde höflich ablehnen. Ein Spiel auf einem ungestimmten Instrument – das ist Ruckdeschels Sache nicht. Stattdessen unterhalten wir uns weiter, über sein Musikverständnis und die Religion und sein persönliches Verhältnis zu diesem Instrument, dessen Ruf er als kleiner Junge gefolgt ist. „Spiel und Person sind nicht zu trennen“, sagt er, spricht von einer Symbiose. Und doch gebe es Tag für Tag neue Geheimnisse in dieser Langzeitbeziehung zu entdecken: „Eine Orgel dieser Größenordnung bietet fast unerschöpfliche Möglichkeiten. Man kann so ein Instrument kaum so kennen, dass man sagen kann: ‚Ich hab alles.‘“
Ob man auch ein guter Domorganist sein kann, ohne an einen Gott zu glauben? Ruckdeschel überlegt kurz und verneint: „Soli Deo Gloria“ – einzig meinem Gott zu Ehren -, zitiert er Johann Sebastian Bach. „Die Kunst in den Dienst der höheren Ehre Gottes zu stellen sollte immer wesentlicher innerer Antrieb sein.“ Außerdem gehe es in seiner Arbeit eben nicht nur darum, Konzerte zu spielen. Ruckdeschel begleitet auch die regelmäßigen Gottesdienste im Dom musikalisch. Festgelegte Stücke vom Blatt spielt er dabei nicht, improvisiert frei zu den Themen, die der Priester in der Messe anspricht. Es sind diese Improvisationen, die ihm besonders am Herz liegen, der Moment, wenn der Geist der Musik sich verselbstständigt, und der Funke zu den Menschen unten im Kirchenschiff überspringt.
Die katholische Kirche und die Orgel – diese Beziehung geht weit zurück. Bis heute gilt Orgelmusik als Inbegriff des Sakralen, des Heiligen, des Würdigen. „Die Orgel steht dadurch, wie sie Töne erzeugt, dem Gesang sehr nahe, war daher der ideale Begleiter für den Chorgesang“, erklärt mir Ruckdeschel. Aber das alleine ist es nicht.
Die Lieblichkeit der abwechselnden Register ist so einnehmend, dass man nicht glauben kann, dass ein unbelebtes Holz oder Zinn solche zärtliche Töne hervorzubringen im Stande sei. Man muss aber auch ein angenehmes Erschrecken fühlen und mit der bebenden Kirche gleichsam zu zittern anfangen, wenn die etlich und fünfzig Register mit dem durchdringenden Pedal zusammen gezogen werden, die mit einem so gewaltigen Schalle ertönen, dass das Gehör gleichsam davon betäubet wird, und man fast denken sollte, als wenn es ein Krachen von einem rollenden Donner wäre.
Mit diesen Worten beschrieb Johann Christoph Altnikol, Schwiegersohn von Johann Sebastian Bach, einst die Faszination dieses Instruments. Ruckdeschel erläutert: „Die Art ihres Klangaufbaus kann theologisch als ein Abbild der Schöpfungsordnung gelesen werden, ihre akustischen Gesetze spiegeln die des Kosmos wider.“ Zudem spiele das verbaute Material eine Rolle: „Erze, Eisen, Holz – alles aus dem Material der Schöpfung gemacht.“
Deutlich irdischer geht es dagegen zu, als wir wieder zurück in den Eingangsbereich des Stephansdoms treten. Natürlich bin ich jetzt neugierig, will endlich mit eigenen Ohren Ruckdeschels Orgelspiel lauschen. Aber dazu muss ich den Organisten erst einmal in die kalte Novemberluft entlassen. Dann mache ich kehrt und füttere den Automaten mit einem 20-Euro-Schein. Es rattert und knattert, dann fällt eine CD in den Ausgabeschacht. Der Mensch lebt nicht von Twix allein.
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