Herr Wehrli hat eine Mission. Der Schweizer bringt Ordnung ins Chaos. Was mit Neuarrangements moderner Kunstwerke begann, ist mittlerweile im Alltagsleben angekommen: In seinem neuesten Fotoband räumt der Künstler Buchstabensuppen und Bällchenbäder auf. Selbst der Himmel ist vor Wehrlis Ordnungsfimmel nicht mehr sicher.
Das Oberdeck eines Parkhauses, irgendwo in Zürich: Wir schreiben den 10. April 2011. Ein großer Tag für Ursus Wehrli. Trotz Sonnenscheins trägt der schlanke Mann mit dem kurzgeschorenen Haar das Hemd hochgeschlossen. Ordnung ist nunmal auch eine Frage des äußeren Erscheinungsbildes. Ernste Augen streichen über weiße Asphaltmarkierungen. Dann endlich fahren sie ein: große und kleine Automobile, blau, rot, gelb, schwarz, weiß. Herr Wehrli nickt zufrieden. Es kann losgehen.
Gerne wirft man den Deutschen vor, sie seien ein Volk von kleinkarierten Erbsenzählern. Dabei lebt der Großmeister der Beckmesserei in der Schweiz: Wehrli der Name, Ursus Wehrli um genau zu sein und an Genauigkeit darf es in den folgenden Zeilen nun wirklich nicht mangeln. Schließlich ist Ordnung für den 42-jährigen Künstler sehr viel mehr als nur das halbe Leben. Zumindest in jenen Momenten, in denen der Eidgenosse nicht als männliche Hälfte des Komikerduos Ursus & Nadeschkin unterwegs ist, sondern seinen Vornamen gegen ein strenges „Herr“ eintauscht.
2002 trat dieser ordnungsliebende Mr. Hyde zum ersten Mal in Wehrlis Leben – und stieß sich mächtig an einem Bild des US-Malers Donald Baechler, das in der Wohnung des Kabarettisten hing. Ein schwarz gekleideter Mann war darauf zu sehen, zu seinen Füßen acht rote Quadrate. Gelungen, freilich – aber so unglaublich durcheinander! Sprach Herr Wehrli und nahm die Schere zur Hand: Kurze Zeit später wären die Rechtecke fein säuberlich ausgeschnitten und übereinander gestapelt. Der Schweizer hatte Blut geleckt: Zwei Bücher lang putzte und räumte Herr Wehrli quer durch die Kunstgeschichte: Klees Quadrate sortierte er säuberlich nach Farben, die Möbel in Van Goghs Schlafzimmer kamen gestapelt aufs und unters Bett und die Menschenmasse auf Brügels „Kampf zwischen Karneval und Fasten“ – nun, die schickte er einfach nach Hause. Dekonstruktion von Kunstwahrnehmung nannten es die einen. Herr Wehrli sagte schlicht „Kunst aufräumen“.
2011 beschloss Ursus Wehrli, sein Betätigungsfeld auszuweiten: Den Besen nur in der Kunstwelt zu schwingen reichte dem eidgenössischen Mr. Hundertprozent längst nicht mehr aus. Die ganze Welt sollte sich nun Wehrlis Ordnungsdiktat unterwerfen. Und weil sich dieses Vorhaben nicht über Nacht erledigen ließ, startete der Künstler im Kleinen und arbeitete sich langsam vor: von den As bis Zs einer Buchstabensuppe über die Förmchen im Sandkasten bis hin zu den Sternen am nächtlichen Firmament. Zuerst in Reih und Glied gebracht, dann das Ergebnis per Foto dokumentiert. Stundenlange Friemelarbeit, die leichter klingt als sie getan ist. Und nicht immer langten eine Schere oder – wie im Fall des Wiener U-Bahnfahrplans – ein geschicktes Händchen für Photoshop aus.
Aus diesem Grund steht Ursus Wehrli nun also auf dem Parkdeck in Zürich: Er will ein Zeichen setzen, ein Leuchtfeuer schaffen für mehr Homogenität im bunten Parkplatzdurcheinander. Den Mund am Megaphon dirigiert er die Autofahrer auf ihren festen Platz im Gefüge der Ordnung: Blau zu blau, gelb zu gelb, rot zu rot. Jede Gruppe nochmal der Länge nach geordnet. Und selbstverständlich parallel zu den weißen Markierungen geparkt. Die Masse gehorcht folgsam, bis die gewünschte Bildkomposition steht. Erst jetzt umspielt ein zufriedenes Lächeln die Lippen des Schweizers, erst jetzt darf Wehrlis Fotograf Daniel Spehr die Komposition aus der Vogelperspektive auf Zelluloid zu bannen.
Ein wahrer Ordnungsfanatiker könnte sich nun beruhigt schlafen legen. Aber Wehrlis Arbeit ist noch nicht vollendet. Plötzlich huscht ein verschmitzter Ausdruck über das Gesicht des Künstlers, ähnlich dem Blick von Kindern, kurz bevor sie ihre mühsam errichteten Sandburgen wieder niedertrampeln. „Und jetzt vermischen, damit es wie real aussieht“, ruft Wehrli in sein Megaphon – und wieder gerät Bewegung in die parkende Masse. So korrekt, wie Wehrli eben noch versucht hat Ordnung zu schaffen, macht er sich nun daran, ein möglichst chaotisches Vorherbild zu entwerfen. Eine kleine Schummelei, die Wehrli nicht schlimm findet: „Andersherum würde es dreimal so lange dauern. Und wenn es keiner weitersagt, wird’s auch keiner merken“, sagt der Kabarettist und grinst. Der Mann, dem die Ordnung angeblich über alles geht – ist er am Ende doch ein Freund des Chaos?
Lieber Ursus Wehrli, was dauert länger? Eine Buchstabensuppe in ihre Bestandteile zu zerlegen oder einen Parkplatz mit Autos zu ordnen?
Der Parkplatz dauert länger, keine Frage.
Die Buchstabensuppe hingegen ist ungemein aufwändiger: einerseits, weil ich alles selber mache und die Buchstaben in mühseliger Feinarbeit mit der Pinzette in der Suppe herumschieben muss, andererseits muss man erst mal austesten, bei welcher Teigkonsistenz sich die Lettern am besten aufräumen lassen, und, weil das alles so kleinteilig ist, läuft man dauernd Gefahr einen Buchstaben zu verlieren.
Bei den Autos ist das alles viel entspannter: die Lenker parken sich ja von selber farblich assortiert ein und die Chance, dass ein Auto verloren geht ist auch relativ klein.
Wenn wir zuhause aufräumen, werfen wir manchmal einfach alles in den Schrank und schließen die Türen. Schummeln Sie manchmal auch beim Aufräumen Ihrer Bilder?
Nein, ich schummle nie! Jedenfalls nicht absichtlich…
Ich bin sehr pedantisch, wenn es darum geht, Ordnung zu machen.
Allerdings habe ich auch schon mal beim bekannten Bild des Schlafzimmers von Van Gogh alles einfach unters Bett geschoben. Auch so lässt sich Ordnung machen.
Und: gibt es immer wieder Leute, die mich auf Dinge in meinen Büchern aufmerksam machen, die nicht richtig aufgeräumt sind oder kleine Details finden, die in der aufgeräumten Version vergessen gegangen sind. Ich freue mich jeweils sehr darüber und bin froh, dass es scheinbar Menschen gibt, die noch genauer schauen als ich.
Sie sind Ideengeber und gestalten den Bildaufbau Ihrer Aufräumaktionen. Bei der tatsächlichen Fotografie ihrer Motive überlassen Sie aber Geri Born und Daniel Spehr das Feld. Reizt es Sie nicht, ihre Ideen auch selbst zu abzulichten?
Ich fotografiere auch selber, aber nicht professionell. Bei den Bildern für mein Buch hatte ich nie die Absicht, mich als Fotokünstler zu verwirklichen, sondern die Situationen, die ich in meinem Kopf hatte, so perfekt wie möglich abzulichten. Mit Geri Born und Daniel Spehr hatte ich zwei Profi-Fotografen, denen ich voll vertrauen konnte und bei denen ich sicher sein konnte, dass Belichtung, Bildwinkel, Schärfe und die Bildkomposition in meinem Sinn waren. So konnte ich mich voll und ganz auf die Aktionen und die Gestaltung konzentrieren.
Das Kind im aufgeräumten Sandkasten sieht nicht gerade glücklich aus, die wie Sardinen aufgereihten Menschen auf dem Schulhof und im Schwimmbad wecken Assoziationen an die Art und Weise wie Leichen nach einer Katastrophe aufgebahrt werden. Versteckt sich hinter der Suche nach perfekter Ordnung etwa doch eine Warnung vor eben dieser?
Ich habe keine unterschwellige Botschaft oder Moral in meiner Arbeit, wenn Sie das meinen. Ich gehe visuell vor, nicht ideologisch. Ob man da etwas hineininterpretieren will, überlasse ich dem Betrachter oder der Betrachterin. Ich finde es allerdings tatsächlich faszinierend, wie das Thema Ordnung und Chaos bei jedem von uns sehr viel Assoziationen weckt und wie sowohl eine zu grosse Ordnung wie auch ein zu grosses Chaos für einige Menschen beängstigend oder provozierend sein kann.
Das Buch „Die Kunst, aufzuräumen“ gibt es für 16,90 Euro bei Kein & Aber.
Dieser Artikel erschien im Mai 2012 im PHOTOGRAPHIE-Magazin.