Faule Socke und alte Schachtel

Fleiß, Ordnungsliebe und Pünktlichkeit – dafür sind die Deutschen traditionellerweise bekannt. Bei der Gestaltung ihrer regionalen Feste, Brauchtümer und Rituale beweisen sie allerdings noch andere, oft unerwartete Fähigkeiten: Kreativität und eine gehörige Portion Verrücktheit.

Fünfundzwanzig Jahre alt und noch immer nicht unter der Haube [1] ? Eigentlich eine völlig normale Sache im Single-Deutschland des 21. Jahrhunderts. Im Nordwesten des Landes lassen es sich Freunde und Nachbarn allerdings nicht nehmen, ihrer Besorgnis über den Mangel an weiblicher Gesellschaft im Leben des Geburtstagskindes auch bis in die Gegenwart hinein Ausdruck zu verleihen. Am Geburtstag schmücken sie daher Haustür und Garten des Jubilanten mit dem „Sockenkranz“, einer langen Schnur aus aneinander gebundenen Socken. Dieser Kranz vermag dann jene unterschwellige Kritik auszudrücken, die aus Höflichkeitsgründen normalerweise unausgesprochen bleibt: „Du faule Socke [2] , kümmere dich endlich um eine Frau!“

Prost, die Dame!

Wer nun erwartet, dass nur dem Mann ein solches „Geschenk“ blüht, der irrt gewaltig. Zumindest in diesem Bereich hält die Gleichberechtigung Deutschland fest im Griff: So dürfen sich auch die 25-jährigen  Junggesellinnen [3] über einen Kranz „freuen“, der anstelle von Socken allerdings mit Schachteln (häufig Zigarettenpackungen) geschmückt und – wenig schmeichelhaft – der nun „alten Schachtel [4] “ gewidmet wird. Zum gemeinsamen Kranzaufhängen für Männlein wie Weiblein treffen sich Verwandte, Freunde und die gesammelte Nachbarschaft. Schließlich verspricht die Aktion Alkohol und Schnaps in Hülle und Fülle. (Und wo der Alkohol in rauen Mengen fließt, sind Nachbarn in der Regel nicht weit.) Doch Deutschland wäre nicht Deutschland, gäbe es nicht auch für den Prozess des Aufhängens ein strikt vorgeschriebenes Regelwerk. So muss der Kranz vor dem Aufhängen fachgerecht vom Geburtstagskind „abgelaufen“ werden. Bei jedem Schritt der manchmal mehrere 50 Meter langen Kränze heißt es dann „Prost!“. Kein Wunder also, wenn das tapfere Geburtstagskind nach getaner Arbeit mitunter [5] von seinen Freunden direkt ins Bett getragen und die Feier ohne ihn weitergehen muss.

Noch lächelt er…

Fegen bis die Jungfrau kommt

Für denjenigen Junggesellen, der sich auch noch mit 30 Jahren als heiratsresistent erwiesen hat, werden – wie konnte es anders sein – schwerere Geschütze aufgefahren [6] . Fand der Sockenkranz noch in relativ privater Atmosphäre vor der eigenen Haustür statt, wird der Junggeselle nun zur Rathaustreppe des Heimatortes geladen, wo die feine Verwandtschaft samt Freundeskreis schon eifrig damit beschäftigt war, unter Zuhilfenahme von Papierschnipseln, Kronkorken und Sägespänen eine möglichst große Sauerei zu veranstalten. Es versteht sich von selbst, dass eine dermaßen beschmutzte Treppe im ordnungsliebenden Deutschland missfällt. Also muss – wie sollte es auch anders sein – das Geburtstagskind an die Arbeit. Um es ihm aber nicht zu einfach zu machen, wird die Säuberungsaktion gerne sabotiert. Manchmal bekommt das Opfer nur einen Handfeger oder eine Zahnbürste, manchmal werden neue Ladungen an Sand und Papier einfach nachgeliefert und die Arbeit geht von vorne los. Einzige Chance auf Erlösung bietet der Kuss einer Jungfrau. Da jene aber – vor allem in diesem fortgeschrittenen Alter – immer seltener anzutreffen sind (und auch die Beweisführung wohl schon unter sexuelle Belästigung fallen würde), erlaubt die Tradition mittlerweile auch den einfachen Wangenkuss eines Mädchens oder einer unverheirateten Frau.

Süd und Nord – ganz and’rer Ort!

Richten wir unseren Blick auf der deutschen Landkarte weiter gen [7] Süden, verblassen die Praktiken um „Sockenkranz“ und „Treppefegen“ allmählich. Abgesehen von den national einheitlichen Weihnachts- oder Ostertraditionen ist die Ausgestaltung der „kleineren“ Bräuche in Deutschland eine oftmals regional beschränkte Angelegenheit. So passiert es nicht selten, dass sich auch ein Bayer über die „seltsame Wäscheleine“ vor der Tür der Preußen wundert. Oder ein gestandener Ostfriese [8]  über das „Fensterln“ im süddeutschen Raum.

Bei dieser Tradition (bei der ausnahmsweise kein Alkohol im Spiel ist), kletterte der Mann mithilfe einer Leiter zum Fenster seiner Geliebten und bat um Einlass in ihr Schlafzimmer. Strenge dörfliche Sitten verboten in der Vergangenheit die allzu öffentliche Annäherung von unverheirateten Exemplaren unterschiedlichen Geschlechts. So bot Fensterln oft die einzige Möglichkeit für zwei Liebende, sich bereits vor der Hochzeit ohne Anstandsdamen [9]  näher kennen zu lernen. Da der Großteil der deutschen Singles  inzwischen nicht bei seinen Eltern wohnt und es darüber hinaus längst kein Problem mehr darstellt, auch vorehelichen Kontakt zueinander zu knüpfen, ist das „Fensterln“ mittlerweile ausgestorben und findet bestenfalls noch traditionellen Heimatfilmen Platz. Wer sich nichtsdestotrotz auf Fensterl-Tour begeben möchte, sei gewarnt: Nach einem Urteil des Frankfurter Amtsgerichts gilt das Fensterln in den nördlicheren Regionen Deutschlands nicht mehr als kulturelles Erbe, sondern schlichtweg als Hausfriedensbruch.


Dieser Artikel ist 2007 in der Ausgabe 02 des polnischen, mehrsprachigen Lehrmagazins „Anglorama“ erschienen. Originalfassung als pdf hier downloaden.

[1] unter der Haube sein  = umgangssprachlich für „verheiratet sein“

[2] umgangssprachlich für „eine faule Person“

[ 3] das deutsche Wort für weibliche Single (Plural)

[4] abwertend für eine Frau im hohen Alter

[5] Synonyme: gelegentlich, bisweilen

[6] “Schwere Geschütze auffahren” = gewichtige / umfassende Mittel einsetzen

[7] Richtung Süden

[8] Bewohner der nördlichen Küstenregion Deutschlands

[9] eine Frau, die den gesitteten Umgang zwischen einem Mann und einer Frau überwachen soll

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