Aus der Reihe vergeigte Aufträge: Ich sollte eine fiktive Reportage über das Humboldt-Forum schreiben. Dann ist meine Fantasie mit mir durchgegangen. Jetzt könnt ihr den Text zumindest hier lesen.
Es ist still in Mitte, eine laue Sommernacht. Heiß und drückend hat sich der Berliner Sommer heute präsentiert, nur wenige Touristen waren tagsüber auf der Museumsinsel anzutreffen. Der Hunger auf Eis, er wog schwerer als der Hunger auf Kultur. Nun sitze ich allein auf der kleinen Wiese am Schinkelplatz und starre ratlos auf die rekonstruierte Barockfront des wiederaufgebauten Berliner Schlosses.
Meine Ratlosigkeit hat einen Grund: Ich soll eine Reportage über das Humboldt Forum schreiben. Aber wie schreibt man über etwas, das schon da ist – und gleichzeitig noch nicht existiert? Eröffnet werden soll im Dezember 2020. Aber bezeichnet der Begriff ‚Humboldt Forum‘einen konkreten Ort allein? Oder müssen wir ihn nicht eher als Idee verstehen; eine Idee, die dem architektonischen Golem Stadtschloss erst noch Leben einhauchen wird?
Drei Fassaden des Schlosses, das von 1443 bis 1918 den Hohenzollern als Winterresidenz diente und als Hauptwerk des norddeutschen Barock galt, wurden in den letzten Jahren peinlich genau rekonstruiert, ebenso die Kuppel mitsamt Kreuz, ein Eckrondell an der Ostfassade, drei von vier Seiten des Schlüterhofs, die Innenseite des Eosanderportals sowie die Innenportale des Stellahofs. Die vierte Fassade allerdings, die Ostfassade auf der Spreeseite, bricht die Illusion mit einer schnörkellos-schlichten Betonfront und ihren großen, modernen Fenstern.
Mein Blick wandert die 60 Meter bis zur Kuppel empor, hoch zum großen goldenen Kreuz an der Spitze. Auch einen Menschen des 21. Jahrhunderts vermag dieser Anblick noch zu beeindrucken, diese Wucht der Architektur! Meine Gedanken schweifen zu den heftigen Diskussionen, die die originalgetreue Rekonstruktion des christlich konnotierten Kuppelkreuzes vor einigen Monaten hervorgerufen hat. Historisch korrekt ist es ja. Aber ist es auch zeitgemäß für einen Bau, der in seinem Inneren eben nicht nur eine Religion widerspiegeln soll, sondern die Kulturen der ganzen Welt? Oder wäre der Verzicht auf das Kreuz eine Verleugnung der Geschichte des Gebäudes gewesen?
Sternenklar zeigt sich der Himmel heute; der Schein des Mondes spiegelt sich im Gold des Kreuzes. Es fühlt sich gut an, dieser träumerische Blick nach oben, ins All, in eine weit zurückliegende Vergangenheit. Die Nacht vom 11. auf den 12. August ist eine besondere Nacht, Magie liegt in der Luft. Die Perseiden, ein jährlich wiederkehrender Sternschnuppenstrom, sind heute am besten zu sehen. Tatsächlich muss ich nicht lange warten: Als eine Sternschnuppe über den Himmel saust, formuliere ich in Gedanken einen Wunsch. Mein Blick folgt dem verglühenden Meteor und fällt auf ein Kinoplakat, das für Christian Petzolds „Undine“ wirbt. Ich habe den Film erst kürzlich gesehen; das Humboldt Forum wurde darin prominent gefeatured. Das Motiv zeigt Paula Beer im Arm von Franz Rogowski. Über seine Schulter blickt sie den Betrachter, blickt sie mich, verschwörerisch an. Und zwinkert mir zu. Kann das sein? Ich reibe meine Augen.
Plötzlich steht sie neben mir. „Mein Name ist Undine Wibeau“, sagt die Frauengestalt höflich. „Ich bin promovierte Historikerin und beim Senat zuständig für die Betreuung nationaler und internationaler Gäste.“ Undine Wibeau – das war doch Paula Beers Rolle in dem Film. Ich reibe mir nochmals die Augen. Aber die Frau ist noch immer da, öffnet wieder ihren Mund. „Heute allerdings.. bin ich ganz für Sie da.“ Ein Augenzwinkern, dann wieder dieses verschwörerische Lächeln. „Sie wollen doch das Humboldt Forum sehen, oder? Dann kommen Sie mit!“ Ich greife die ausgestreckte Hand der Frau, bin verwundert, dass ich sie wirklich fassen kann, und lasse mich von ihr die Stufen hoch zum Eingangsportal leiten, das wir einfach so durchschreiten als wären wir Luft.
Drinnen fühlt es sich an, als hätten wir gerade das Tor zu einer anderen Zeit durchschritten. So verwurzelt in der Vergangenheit das Äußere des Schlosses auch sein mag, so hochmodern mutet sein Interieur an. „Zeitgenössische Künstler*innen waren eingeladen, sich auf vielfältige Weise mit diesem Ort auseinander zu setzen“, doziert meine dem Märchen entsprungene Museumsführerin. „Nehmen wir als Beispiel die Wandmalerei im Treppenhaus über dem Hofportal 1 im Schlüterhof. Hier wird deutlich sichtbar die barocke Architektur des Berliner Schlosses aufgenommen, um herausragende Exponate der Sammlungen des Humboldt Forums als Requisiten von linear gezeichneten Architekturelementen zu präsentieren.“ Ich fühle mich an die Worte erinnert, die Rogowski in seiner Rolle als Undines Liebhaber zu ihr sagt: „Du sagst so schlaue Sachen. Und so viele davon. Auf so schöne Weise.“ Und muss lächeln.
In der zentralen Treppenhalle, die im Westflügel im 2. und 3. Obergeschoss die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst erschließt, sticht mir eine seltsam unfertig anmutende Bronzeplastik ins Auge: Die untere Hälfte einer schwarzen Flagge auf Halbmast. „Diese Intervention ist das Ergebnis einer künstlerischer Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte und dem Humboldt Forum. Ihr Titel ‚Statute of Limitations‘ spielt auf den juristischen Terminus der Verjährung von Straftaten an“, klärt mich meine ungewöhnliche Begleiterin auf. „Die Arbeit von Kang Sunkoo ist eine äußerst gelungene Idee, die die Geschichte der Kolonialisierungen wie auch deren Folgen bis in die Gegenwart problematisiert und hinterfragt.“ Undine schmunzelt. „Das sind im übrigen nicht meine Worte, sondern die von Bauvorstand Hans-Dieter Hegner.“
„Aber was ist mit der Geschichte der DDR?“ höre ich mich plötzlich fragen, in meiner Erinnerung jene spöttischen Worte, die ein unbekannter Graffitikünstler in den Trümmern des 2006 abgerissenen Palasts der Republik hinterlassen hatte, der von der SED-Führung an der Stelle des Stadtschlosses errichtet worden war: „Die DDR hat’s nie gegeben.“
„Nun, wenn Sie dieses Bauwerk tatsächlich vermissen…“ Huscht da ein spöttischen Schatten über Undines Gesicht? Meine Begleiterin deutet auf ein Wandgemälde im Treppenhaus über Hofportal 5; ein Bild, das mir seltsam vertraut erscheint und das in seiner Rasterstruktur und überzeichneten Perspektive die Grenzen zwischen Zwei- und Dreidimensionalität verschwimmen lässt. „Tim Trantenroth hat hierfür die Fassadenstruktur des Palastes der Republik aufgegriffen. Aber nun müssen wir weiter, wir haben noch eine Verabredung.“
Eine Verabredung mit wem? Mit den Museumswächtern, die uns wegen unerlaubten Betretens des Gebäudes verweisen werden. Undine scheint meine Gedanken zu lesen wie ein offenes Buch. „Um das Sicherheitspersonal müssen wir uns heute keine Sorgen machen.“ Bevor ich weiter nachdenken kann, hat sie mich bereits weiter gezogen, zurück ins Foyer, wo sich mir ein surreales Bild bietet.
Direkt unter dem rekonstruierten Eosanderportal steht eine kleine goldene Gestalt, auf dem Kopf trägt sie einen trichterförmigen Hut, ihr Haarkranz erinnert an die Schnur eines alten, kabelgebundenen Festnetztelefons. „Kalk?“ fragt das kleine, ansonsten nackige männliche Wesen, greift sich an den Kopf und klappt ihn um. Ich blicke in einen Hohlraum und verstehe: Die Figur dient offenbar nicht nur zu Schmuckzwecken, sondern auch als Behälter. „Äh, nein, danke“, lehne ich – etwas verstört, aber höflich – ab, worauf sie ihren Kopf wieder zurück an Ort und Stelle kippt.
„Wie unhöflich, dass ich mich nicht zuerst vorgestellt habe“, maßregelt sich die Gestalt selbst. „Gestatten, ich bin ein Kazike und wurde zwischen 500 und 700 nach Christus von den Quimbaya, einer Zivilisation aus dem vorspanisches Kolumbien, im Hohlgussverfahren hergestellt.“
„Angenehm“, erwidere ich zögerlich.
„Der Kazike stammt aus dem Ethnologischen Museum und ist nur eins von zahlreichen Highlights unter den 20.000 Ausstellungsstücken, die schon bald auf 17.000 Quadratmetern in der zweiten und dritten Etage präsentiert werden “, klärt mich Undine auf und setzt verschwörerisch hinzu: „Das Gold ist übrigens nicht rein, sondern eine Legierung mit hohem Kupfergehalt.“ Dieses Detail hätte der Kazike wohl lieber für sich behalten. Unzufrieden brummelt er meine Begleiterin an – und pfeift dann drei Mal laut.
Wie auf Kommando sprintet eine Gestalt hinter dem Eosanderportal hervor: vier Beine, ein Kuhkopf, zwei Hörner. „Das ist der Prozessions-Stier Nandi, Reittier und treuer Diener des Hindu-Gottes Shiva“, weiß Undine zu berichten. „Bald wird er hier im Museum für Asiatische Kunst zu sehen sein.“ „’Nandi‘ bedeutet übrigens ‚der Glückliche’“, ergänzt der Kazike und sattelt auf. „Los, Nandi, zurück in die ‚Goldkammer‘ des Museums! Es dämmert bald.“
„So spät ist es schon?“ Undine blickt melancholisch zu Boden. „Ich hätte Ihnen gerne noch mehr gezeigt. Die Steinfigur Barrigón aus Guatemala zum Beispiel, die irgendwann zwischen 500 und 300 vor Christus hergestellt wurde. Oder wir hätten die farbenprächtigen Kragen der Hmong anprobieren können, einem indigenen Volk das hauptsächlich in Ost- und Südostasien beheimatet ist, oder…“
„Es ist gut so, wie es ist“, sage ich und lächele nun meinerseits Undine an. „Bald wird noch genug Zeit sein, sich hier in Ruhe umzusehen.“ Sie nickt und reicht mir wieder ihre Hand. Gemeinsam verlassen wir das Humboldt Forum, wie wir es betreten haben: Durch das Hauptportal, ohne die Tür zu öffnen. Diesmal bin ich nicht mehr verwundert.
Als ich auf der Wiese am Schinkelplatz erwache, lugt die Sonne schon wieder vorsichtig über den Horizont. Es ist warm. „Everything ok?“ höre ich die vorsichtige Stimme eines Mannes. „Oh, yes, sorry, I must have fallen asleep“, antworte ich gähnend und denke noch: Was für ein seltsamer Traum! Mein Blick schweift von der Fassade des Schlosses hoch zum goldenen Kreuz und schließlich zurück auf das „Undine“-Plakat. Paula Beer im Arm von Franz Rogowski. Sie zwinkert mir zu.
Zitate aus „Undine“ (2020) zum Humboldt-Forum:
„Anfangs lag das Schloss am westlichen Rand der Stadt. Erst mit der Erweiterung nach Westen hin rückte es ins Zentrum der Stadt, wurde zum eigentlichen Stadtmittelpunkt, auf den sich umliegende Gebäude bezogen und wurde Ausgangspunkt für die Straße Unter den Linden, die preußische ‚Via triumphalis‘.“
„Im Zweiten Weltkrieg wurde das Schloss weitgehend zerstört, wobei Teilbereiche in den ersten Nachkriegsjahren zum Beispiel als Ausstellungsräume in Nutzung waren. Mit größerem Interesse und Engagement der SED-Führung wäre ein Wiederaufbau des Schlosses sicher möglich gewesen, wie es der Wiederaufbau des ähnlich zerstörten Charlottenburger Schlosses im Westen beweist.“
Die hinterlassene Leerstelle [nach der Sprengung des Berliner Schlosses im Herbst 1950] wurde Anfang der 70er Jahre mit dem Bau des Palasts der Republik zwar etwas gefüllt, dennoch gähnte hier an zentralem Ort eine etwas surreale Ödnis, zumindest für das westlich geprägte Auge, und man spürte den Phantomschmerz einer gewaltsamen Amputation.“
„Nach der Wiedervereinigung setzte schnell der Diskussionsprozess ein, ob der Platz in der Mitte künftig sinnvoller zu besetzen sei. 2002 stimmte der Bundestag für einen Neubau mit einer Nachgestaltung der Schlossfassade. Diese Rekonstruierung des Schlosses verdanken wir im Grunde einem Taschenspielertrick. 1993 initiierte der Förderverein zum Wiederaufbau des Schlosses eine 1:1-Fassadensimulation, um vor allem den Berlinerinnen und Berlinern den Verlust ihres ehemaligen Zentrums in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen. Mit Erfolg. Die Stimmung kippte zugunsten einer weitgehend historischen Rekonstruktion des Schlosses, das als so genanntes Humboldt Forum zukünftig vor allem musealen Zwecken dienen soll.“
„Die moderne Architekturerfassung lehrt uns, dass sich die Gestalt eines Gebäudes am besten aus der bestmöglichen Realisierung des angestrebten Nutzens entwickeln müsse: Form follows function. In Berlins Mitte steht nun ein im 21. Jahrhundert gebautes Museum… in der Gestalt eines Herrscherpalastes des 18. Jahrhunderts. Das täuscht aber [unhörbar] an der These, dass dies keinen wesentlichen Unterschied bedeute. Was in etwa gleichbedeutend ist mit der Behauptung, das Fortschritt unmöglich ist. Immerhin eine Aussage, auch wenn uns diese nicht gefällt.“
Undine Wibeau, Stadthistorikerin , gespielt von Paula Beer in „Undine“ (Petzold, 2020)
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