Entdeck den Dreck: Faszination Matsch

In Brunsbüttel findet seit 2004 die Wattolümpiade statt. Eigentlich wollte ich nur eine Foto-Reportage machen. Aber dann landete ich selbst im Matsch. Es war geil!

„Komm schon, du willst es doch auch.“ Das kleine Teufelchen auf meiner Schulter zwinkert mir verschwörerisch zu. Ich stehe in Brunsbüttel, direkt am Deich, vor mir liegt die Elbe. Aber das Wasser fehlt. Stattdessen glänzt brauner Modder in der Nachmittagssonne, knietief, cremig. Ein Meer aus Schlamm. „Los, spring!“ schreit das Teufelchen. „Los, spring!“ schreien die matschbesudelten Menschen von unten. „Los, spring!“ schreit meine Freundin Delia, ebenfalls von Kopf bis Fuß mit Schlamm besudelt, ihre Zähne ein einsamer Fleck Weiß im Einheitsbraun. „Du hast gar keine Ersatzklamotten mit!“ denke ich noch, aber da laufe ich schon, bin abgesprungen, breite meine Arme aus und falle dem morastigen Untergrund entgegen.

Ein paar Tage zuvor…

Nicht nur sauber, rein soll unser Leben sein. Das sagt uns die Gesellschaft, das sagt uns die Werbung, das sagten meine Eltern, wenn ich aus der Wohnungstür rannte, um im Wald hinter unserem Haus zu spielen. „Mach dich bloß nicht schmutzig!“ riefen sie mir nach – eine Einladung, es erst recht zu tun. Manchmal hatte ich Gummistiefel an, wenn ich von Pfütze zu Pfütze stampfte. Aber ohne machte es mehr Spaß. Heute springe ich nicht mehr in Pfützen. Ich gehe brav herum. Schließlich bin ich jetzt erwachsen. Und erwachsene Menschen spielen nicht im Matsch.

Das dachte ich zumindest, bis ich die Wattolümpiade kennenlernte. Denn in Brunsbüttel, hoch oben im Norden, dort wo Schafe im Schatten von Atommeilern grasen, gibt es noch ein paar Rebellen, die sich gegen Meister Proper und den Weißen Riesen auflehnen. Fußballspielen im Modder? Ein Schlittenrennen durch den Schlick? Genau darum geht’s bei dieser etwas anderen Sport-Veranstaltung.

Der Weg zum Wattkampfort führt mich bei meinem Besuch direkt über den Deich. Aus der Ferne höre ich die Menge frenetisch jubeln. „Wattschlammpen, Wattschlammpen!“ feuert eine Gruppe ihre Favoriten an. „Schlammburger Jungs! Schlammburger Jungs!“ hält ein ähnlich starker Chor dagegen. Und dann sehe ich sie, die Wattleten. Auf zwei nebeneinander liegenden Spielfeldern – das eine für Wattwolliball, das andere für Fußball – balgen sie sich um ein matschbraunes Etwas. Der groben Form nach zu urteilen handelt es sich um einen Ball. Manche Wattleten scheinen tatsächlich zu glauben, sich dem Unvermeidlichen beugen zu können. Erste Schlammspritzer zeigen sich auf Gesicht und Kleidern, aber noch überwiegt die Vorsicht, noch versuchen die Männer und Frauen, Balance zu halten.

Wattolümpiade, Schlammschlacht

Ganz anders diejenigen, die ihre Taufe schon hinter sich haben! Ist das Gewand erst ruiniert, wälzt es sich recht ungeniert! Einheitsbraun vom Scheitel bis zur Sohle jagen die Matschmonster dem Ball hinterher, werfen sich mit kindischer Wonne ihren Gegnern in den Weg, immer auf die maximale Spritzwirkung ihrer Bauchplatscher bedacht. Wobei „jagen“ eine Geschwindigkeit suggeriert, die einfach nicht aufkommt, wenn man sich meterweit durch knietiefe Matschepampe schleppen muss. Manche geben den aufrechten Gang schließlich ganz auf: Auf allen Vieren schleppen sie ihre Körper durch die zähe Masse – und graben sich irgendwann so tief ein, dass nur noch Ärmchen, Kopf und ein Stück Oberkörper hinauslugen.

Es ist, als würde vor meinen Augen ein Slapstick-Revival mit Dick & Doof aufgeführt werden – nur mit Schlamm anstelle von Torten und Bananen. Am lautesten jubeln die Zuschauer dann auch nicht bei einem Tor, sondern wenn ein Sportler einen besonders spektakulären Platscher hingelegt hat. Ich jubel und johle mit, obwohl ich niemanden unter den Teams kenne – womit ich klar in der Unterzahl bin.

Wattolümpiade, Schlammschlacht

Denn die Wattolümpiade hat sich bislang diesen besonderen Dorffestcharme bewahrt, der oft verlorengeht, wenn eine Veranstaltung überregional bekannt wird. Man kennt sich in Brunsbüttel. Zumindest kennt man sich wieder, wenn die Dusche den gröbsten Dreck vom Körper gewaschen hat. Angenehm fällt mir auch auf, dass die Konkurrenz untereinander zwar hart ist, aber nie verbissen. Schließlich gehen sämtliche Erlöse des Tages an Krebspatienten in der Region. „Ein schmutziger Sport für eine saubere Sache“ werben die Veranstalter.

Nach ein paar Stunden sitze ich immer noch am steinigen Hang am Spielfeldrand, futtere meine Pommes, knipse Bilder und beobachte das bunte Treiben. Wie es wohl wäre, einfach loszurennen und es den Wattleten gleichzutun?, überlege ich. Aber da sich kein anderer Zuschauer auf die Matsch-Partie einlässt, bleibe ich sitzen. „Beim nächsten Mal machen wir mit!“ knufft mich meine Freundin Delia, die mit nach Brunsbüttel gereist ist, tröstlich in die Seite.

Vermutlich wäre ich auch genau so sauber, wie ich angereist bin, zurück nach Hause gefahren, hätte nicht plötzlich dieser Berg von Mann vor mir gestanden. „Hast du gerade Fotos von uns gemacht?“, donnert die imposante Erscheinung, sein Äußeres eins geworden mit dem Spielfeld, und deutet auf eine ebenso schlammige Dame neben sich. Das Herz rutscht mir in die Hose. „Ja“, stammel ich – kurz davor ihm anzubieten die Aufnahmen zu löschen – als sich sein Mund zu einem breiten Grinsen öffnet: „Fotos nur gegen Umarmung!“ Einen Moment später klebt der bärtige Matschmann an mir. Und dann geht alles ganz schnell.

„Du hast gar keine Ersatzklamotten mit!“ denke ich noch, aber da laufe ich schon, bin abgesprungen, breite meine Arme aus und falle dem morastigen Untergrund entgegen.

PLATSCH!

Die Welt um mich herum färbt sich matschbraun. Habe ich das wirklich gerade getan? Für einen Moment überlege ich, wie steril und klinisch unser Leben geworden ist. So getrimmt auf Kontrolle und Perfektion. Etikette einhalten. Haltung bewahren. Bloß nicht das Gesicht verlieren. Ein Sprung in den Matsch wischt all das fort. Das Make-up. Das perfekt sitzende Haar. Die Designerklamotten. Alles verschwindet unter einer dicken Schicht braunen Schlamms. Eigentlich ein schöner Gedanke. Schlamm als der große Gleichmacher.

Aber zum Philosophieren bin ich nicht hergekommen, denke ich, greif mir eine volle Hand Morast und seife die nächstbeste Person damit ein.


Dieser Artikel ist – etwas abgewandelt – auf der Homepage des Deutschen Bahn-Magazins „mobil“ erschienen. (Archiv)

Hier geht’s zu den offiziellen Seiten der Wattolümpiade im Netz und auf Facebook.

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