Warum Artikelüberschriften von Nachrichten im Internet immer marktschreierischer werden – für Nicht-Medienleute erklärt

Dieser Text ist ein Versuch, all den Leuten, die nichts beruflich mit Medien machen, zu erklären, warum unsere Nachrichten im Internet so aussehen wie sie aussehen. Er zeigt meine Interpretation der Lage, ist nicht fertig, sondern ganz bewusst ein work-in-progress – Medienschaffende wie Leser können und sollen Ihre Anmerkungen, Kritik und Kommentare unten anbringen und an ihm weiterschreiben.

Die Art und Weise, wie Überschriften (oder Headlines) auf Nachrichtenseiten wie Spiegel Online oder Bild.de formuliert werden, hat sich mit der Digitalisierung von News krass verändert.

Das liegt daran, dass sich auch die Funktion von Überschriften verändert hat. In einem gedruckten Magazin sind sie das Krönchen, das einem Text aufgesetzt wird. Manchmal gern poetisch, anspielungsreich, oft mit einem kleinen Twist versehen, der auf das Thema des Textes hinweist, manchmal aber auch augenzwinkernd auf eine falsche Fährte führt.

Wenn die Werbung ins Spiel kommt

Dieses Spiel mit der Sprache können sich Artikelüberschriften in gedruckten Erzeugnissen leisten, weil sie eine wichtige Funktion nicht übernehmen müssen, die zentral für alle Überschriften in Online-Magazinen sind: die Werbefunktion.

Bei einem gedruckten Erzeugnis entscheidet (fast immer) das Titelblatt über den Kauf. Hier muss das Presseerzeugnis den potenziellen Leser/Käufer catchen, ihn neugierig machen – und zwar so sehr, dass er für die Auflösung dieser Neugier ins Portemonnaie greift. Die Headlines im Heft sieht der Leser erst nach dem Kauf – ihnen kommt nicht mehr die schwere Bürde zu, werbend wirken zu müssen.

Jeder kämpft für sich

Online sieht es dagegen ganz anders aus. Hier kämpft jeder Artikel für sich, jeder Text muss auf sich alleingestellt um die Aufmerksamkeit des Lesers buhlen. Das führt dazu, dass es Texte zu wichtigen, aber halt auch komplizierteren Themen immer schwerer haben, überhaupt wahrgenommen zu werden (und deswegen immer seltener überhaupt geschrieben werden).

In gedruckten Zeitungen oder Magazinen konnten solche Texte noch veröffentlicht werden, weil sie von der werbenden Wirkung des Coverthemas quasi mitgezogen wurden. Sie hätten von sich aus nicht die werbende Strahlkraft gehabt, zum Kauf anzuregen, werden aber mitgelesen und sorgen im besten Fall für einen Erkenntnisgewinn beim Leser („Wow, der Cum-Ex-Skandal ist ja wirklich spannend – hätte ich nicht gedacht.“)

Der Kampf um DEINEN Klick

In Onlinemedien gibt es dagegen nur eine Währung: den Klick/Visit bzw. die Interaktion in Form von Likes oder dem Posten von Kommentaren. Das bedeutet dass nur dann, wenn ein Lesender auch auf einen Link klickt, der zu dem jeweiligen Artikel führt, dieser Besuch (Visit) des Lesenden auch registriert werden kann und damit als Verkaufsargument bei einem potentiellen Werbe- /Anzeigenpartner gilt („80.000 unterschiedliche Leute haben diesen Artikel angeklickt und gelesen – wenn Sie eine Werbung schalten, die auf einem vergleichbaren Artikel angezeigt wird, erreichen Sie 80.000 Leute!“). Ähnliches gilt für das Verteilen von Likes oder Kommentaren. Sie können zahlenmäßig erfasst werden und damit als Verkaufsargument dienen.

Das war schon ein Problem, als Leute noch die eigenen Webseiten der Nachrichtenseiten besucht haben und durch die Themen heruntergescrollt sind. Aber selbst das macht heute aber fast niemand mehr. Die News erreichen uns via Social Media – und befinden sie damit in einem krassen Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit des Lesenden mit anderen Nachrichtenseiten, Katzenvideos und News aus dem Freundeskreis. Hand auf’s Herz: Es gehört schon einiges dazu, bis wir beim Scrollen durch unsere Facebook-Timeline nicht nur kurz Headline und Vorschaubild einer Nachricht scannen, sondern tatsächlich auf den Link klicken, um den gesamten Text zum Thema lesen. Aber nur wenn wir klicken, bringt es den Verlagen und Medienhäuser auch etwas, das sich später monetär umsetzen lässt.

Empört euch!

Wie dieses Klickverhalten am besten zu gewährleisten ist, damit wurde viel experimentiert: Sind es gute Nachrichten, auf die Leser eher klicken? Oder doch schlechte Nachrichten? Und wie muss eine Überschrift formuliert werden, damit sie in der Flut von konkurrierenden Posts von anderen Nachrichtenseiten, Blogs und Statusupdates eine Interaktion des Lesenden in Form von Klicks, Likes oder Kommentaren auslöst?

Das Zauberwort heißt hier (leider) Empörung. Nur, wenn mich eine Headline so sehr in Wallung bringt, mich so unglaublich traurig oder unglaublich glücklich oder unglaublich WÜTEND macht, dass ich mich genötigt fühle, dazu per Kommentar meinen Senf abzulassen oder darauf klicket, war sie für den Verlag auch im kaufmännischen Sinn erfolgreich.

Überdreht bis zum Anschlag

Eskalationsstufe 1: Jedes Thema, egal wie sachlich es eigentlich ist, wird damit per Überschrift so krass wie möglich überdreht und skandalisiert. Clickbait nennt man das. Am Anfang waren es nur besondere Seiten wie Buzzfeed, Upworthy und Co., die sich mit dieser Art des maximalen Aufmerksamkeitserheischens auf den Markt gedrängt haben – und damit erfolgreich waren.

Längst aber haben fast alle großen Medien diese Art, Überschriften zu formulieren, kopiert – manche in direkterer Form (ironischerweise hat Spiegel Online hier die Clickbait-Beispiele von Konkurrenzseiten gesammelt), manche in einer Weise, die ich hier Oberlehrer-Headlines oder belehrende Überschriften nennen möchte.

Warum du auf jeden Fall hier weiterlesen musst

Ein typisches Beispiel: „Warum du auf keinen Fall XY tun darfst.“ XY kann vieles sein und im Inhalt von der extremen Linken zur extremen Rechten reichen. In mir persönlich wecken solche belehrenden Überschriften 1. tatsächlich Neugier zu klicken („Ja, WARUM denn nicht?“), 2. vor allem aber auch Trotz: DU ZEITUNG HAST MIR GAR NICHTS ZU SAGEN!!! Und dieser Trotz wird dann per wütendem Kommentar kundgetan. Diese Unmut wird im übrigen dadurch gesteigert, dass Oberlehrer-Headlines bei vielen Medien zum Quasi-Standard beim Verbreiten von News via Social Media geworden sind. Ich werde also die ganze Zeit mit Dingen bombardiert, die ich laut diverser Zeitungen GANZ PERSÖNLICH noch falsch mache, und bekomme täglich vorgesetzt, welche Dinge ich noch alle beachten muss, um ein perfekter Mensch zu sein.

Das absurde: Oft sind die Ratschläge und Ideen, die sich hinter solchen Texten verbergen, gar nicht schlecht oder sogar sehr sinnvoll bzw. ernsthaft diskussionswürdig. Ein Beispiel: „Warum du dich an Karneval auf gar keinen Fall als Indianer verkleiden solltest!“ Sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen, ob meine Wahl eines Kostüms eine andere Bevölkerungsgruppe ernsthaft verletzt, welche Mechanismen hinter dieser Verletzung stehen und warum viele Leute, die nicht dieser Bevölkerungsgruppe angehören, diese Verletzung erst einmal nicht sehen bzw. ob sie sie bewusst böse meinen, macht total Sinn.

Was passiert, wenn alle nur noch Überschriften lesen

Das wäre aber keine Überschrift, auf die viele Leute klicken würden. Als Diktat formuliert („Warum du nicht … darfst!“) lädt die Headline aber ganz bewusst zur Frontenbildung ein. Die einen rufen „Ja, bravo!“, die anderen „Was soll der Scheiß!?“ und los geht das Zerfleischen beider Gruppierungen in den Kommentaren. Der Gegenseite zuhören, sich ernsthaft mit ihren Argumenten auseinandersetzen, das tut niemand mehr. Aber immerhin: Sie haben als Lesender mit dem Artikel interagiert und damit das Verkaufsargument für Werbe-/ Anzeigenkunden Verlags verbessert.

Eskalationsstufe 2: Der Klick auf den Artikel selbst unterbleibt mittlerweile oft. Empörte Kommentare werden aber trotzdem abgegeben, dann allerdings nur auf Basis einer völlig überdrehten Überschrift und ggf. noch eines kurzen reißerischen Teasertextes oder lapidaren Post-Kommentars des Social-Media-Teams der Nachrichtenseite zum Artikel („Das war ja wieder klar.“ / „Geht gar nicht“).

Ein empörter Leser macht zu

Diese Überspitzung führt aber dazu, dass Feinheiten zur Sachlage, die im Artikel selbst oft noch angesprochen werden, gar nicht in die Debatte in den (Facebook-)Kommentaren einfließen können und der Diskurs direkt auf dem Niveau der Empörung beginnt und sich schnell spiralförmig abwärts bewegt. Heißt: Am Ende brüllen sich alle nur noch an und wünschen sich gegenseitig die Pest an den Hals.

Zwischenfazit: Ich glaube, dass unsere Art Nachrichten-Headlines im Netz und via Social Media zu formulieren für eine demokratisch organisierte Gesellschaft, in der es eben darum geht, dass unterschiedliche Standpunkte durchdiskutiert werden, fatal ist. Wir spalten statt zu informieren, wir geben eine Richtung vor, die angeblich richtig ist und präsentieren nicht mehr wertfrei die Argumente beider Seiten, auf dass der Lesende selbstständig entscheiden kann.

(Ende für’s Erste… Es gäbe auch noch zu erwähnen, dass eine Kommentarisierung von Nachrichten stattgefunden hat, d.h. Nachrichten werden immer seltener sachlich in der Nachrichtenform präsentiert, sondern gleich als wertender Kommentar aufgearbeitet und via Social Media geteilt…)

Dieser Text ist ein Versuch, all den Leuten, die nichts beruflich mit Medien machen, zu erklären, warum unsere Nachrichten im Internet so aussehen wie sie aussehen. Er zeigt meine Interpretation der Lage, ist nicht fertig, sondern ganz bewusst ein work-in-progress – Medienschaffende wie Leser können und sollen Ihre Anmerkungen, Kritik und Kommentare unten anbringen und an ihm weiterschreiben.

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